Freitag, 30. Januar 2009

Chaitén


Wir hatten uns Chaitén als menschenleere Geisterstadt vorgestellt, durch die allerhöchstens ein paar Touristen stapfen - wir eben. Tatsächlich ist die vom Vulkan verwüstete kleine Stadt gar nicht so verwaist. Zum Beispiel gibt es da den kleinen supermercado an einer Straßenecke, die der Besitzer von ein paar Tonnen weißgrauer, sandiger Asche befreit hat. Drinnen riecht es muffig und an der Fleischtheke gibt es nur eingeschweißte Wurst, aber die Scannerkasse piept schon wieder recht munter. Dürfen sich denn die Menschen wieder ansiedeln in ihrer Stadt? "Naja, dürfen nicht direkt, aber verboten ist es auch nicht", sagt der Ladenbesitzer.

Über zweihundert sollen es schon sein, die zurückgekehrt sind, weiß der freundliche carabinero, der sich Zeit für ein Schwätzchen mit den Ausländern nimmt - alles andere als der Normalfall in Chile. Der Polizist zeigt auf seine Wache, vor der einmal gepflegter Zierrasen wuchs. Jetzt liegt die Asche rund um das Gebäude rund einen Meter hoch, das stimmt ihn traurig. Aber dass der Vulkanausbruch im vergangenen Mai ein beeindruckendes Naturschauspiel war, das kann er nicht bestreiten: "Die Eruptionswolke war anfangs dreißig Kilometer hoch. Man bekam einen steifen Hals, wenn man sie betrachtete." Er empfiehlt sich und schlendert mit seinem Kollegen die Straße hinunter, auf der der Staub im Wind tanzt.

Etwa die Hälfte Chaiténs hat der río blanco unter sich begraben, als er unter der Last der Asche den kürzesten Weg ins Meer suchte und in sein altes Bett zurückkehrte. Das führt jetzt mitten durch die Stadt, und der "Weiße Fluss" macht seinem Namen mehr Ehre als je zuvor. Viele Häuser stehen nicht mehr, eines sieht man von der Uferstraße aus, es steckt weit draußen im Schlamm wie ein Schiffswrack. Andere sind vollgelaufen mit Asche, man geht erhöht an ihnen vorbei, die Schuhsohlen auf Höhe der Türklinke. Drinnen modern Wohnzimmer und Küchen vor sich hin, manchmal haben die Bewohner nicht einmal mehr die Familienfotos von der Wand genommen. Spielzeug liegt verstreut herum, ein kaputter DVD-Player. Keine Angst, sagen wir den Kindern, niemand ist gestorben. Stimmt auch, aber schön ist das hier trotzdem nicht.

Anderswo geht das Leben weiter, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Pan amasado y café verspricht ein handgemaltes Schild, das selbstgebackene Brot und den Kaffee tischt uns eine Frau in ihrem Wohnzimmer auf, unter einem handkolorierten Foto vom Großvater, der sich einst in Chaitén ansiedelte. Ihr Haus steht ein wenig erhöht am Stadtrand, sie hat nichts verloren, nur einen funktionierenden Lebensmittelpunkt. Denn dass Chaitén wieder einmal eine funktionierende Stadt sein wird, daran glaubt fast niemand mehr. Die Regierung hat gerade bekannt gegeben, nicht in den Wiederaufbau an derselben Stelle investieren zu wollen, zu groß sei das Risiko einer erneuten Zerstörung durch den Vulkan, der noch immer keine Ruhe gibt. Die chaiteninos sind natürlich wütend und schwören, alles für ihre geliebte Stadt zu tun, aber am Ende gewinnt bekanntlich der, der das Geld hat.

Obwohl es bewölkt ist, können wir beobachten, wie die Asche weiter aus dem Krater quillt, keine zehn Kilometer ist das Schauspiel entfernt. Plötzlich, innerhalb von Sekunden, färbt sich die Wolke rotbraun und wir rechnen jeden Augenblick mit der Evakuierungssirene - glücklicherweise vergebens. Trotzdem überlassen wir die weitere Beobachtung den Vulkanologen und suchen das Weite.


Mittwoch, 28. Januar 2009

Farben des Südens

Montag, 26. Januar 2009

Überfahrt


Noch fast sechs Wochen Sommerferien - wir nutzen die freie Zeit und fahren auf der Carretera Austral in den Süden, den tiefen Süden. Die nur in Teilen asphaltierte Straße erstreckt sich über tausend Kilometer in Richtung Feuerland, um irgendwann am Campo de Hielo Sur, dem größten nichtpolaren Gletscherfeld der Erde, zu enden. Weiter nach Süden geht es nur über Argentinien. Die Gegend links und rechts der Carretera, die größtenteils unter Pinochet ausgebaut wurde und deshalb fast "Carretera General Pinochet" geheißen hätte, ist bergig und wild, sie überquert milchig blaue Flüsse auf Hängebrücken, aber sie ist beinahe menschenleer. Hier und da das Holzhäuschen einer "Siedlerfamilie", die ein paar Kühe oder eine kleine Schafherde ihr Eigen nennt. Die wenigen Touristen verlieren sich in der Weite.

Das erste Teilstück hinter Puerto Montt muss auf dem Seeweg zurückgelegt werden. Unwegsames Gelände, Geldmangel und Gebietsstreitigkeiten mit dem Naturschutz-Großgrundbesitzer Douglas Tompkins haben den Lückenschluss bislang verhindert. Wir schiffen uns in Hornopirén auf einer Autofähre der Naviera Austral ein, um in neun Stunden bis zur vom gleichnamigen Vulkan verwüsteten Stadt Chaitén vorzudringen. Der Vulkan raucht weiter, aber das Risiko ist mittlerweile soweit gesunken, dass die Behörden die Rückkehr von Bewohnern und die Durchfahrt von Besuchern tolerieren.


Solche Fahrten haben ihre eigene Dynamik. Erst erkundet man die zugänglichen Winkel des Schiffs, sucht sich ein Eckchen mit Ausblick und lässt den Blick über die weite, graue Wasserfläche und die wolkenverhangenen Berge schweifen. Man beobachtet die glatte Spur, die die Maschine hinten in die Wellen zieht, und die der Seegang nach ein paar hundert Metern wieder verwischt. Man fragt sich, wie man neun Stunden Fahrt ohne Langeweile überstehen soll. Irgendwann beginnt man die Mitreisenden zu beobachten: den kantigen Mann mit Glatze, der das "Geisterhaus" auf deutsch liest, die Chilenin, die Tagebuch schreibt, die jungen argentinischen Ausflügler, die vorne an der Reling Bierdosen vernichten. Man wird sich ein bisschen vertraut. Man spielt Karten, man wartet.


Dann ist da noch der Kapitän, oder der, den ich für den Kapitän halte, weil er die schmuckeste Uniform trägt. Ein deutscher Name prangt goldgestickt auf seiner Brust, und er erzählt gerne seine Familiengeschichte, vom deutschen Großvater, der eine Spanierin heiratete und mit ihr nach Chile auswanderte. Er erzählt überhaupt gerne Anekdötchen, etwa über die kleine Insel mit der merkwürdigen Form, die wir gerade passieren: "Wir nennen sie den 'Teufelshut'", sagt er. "Die Felskanten fallen so steil ab, dass es praktisch unmöglich ist, das Plateau zu erreichen. Nur einer hat es einmal geschafft. Aber er ist nie wieder runtergekommen." Er freut sich diebisch über die Pointe.


Irgendwann wird das Wasser bräunlich weiß: die Asche des Vulkans, die in Chaitén ins Meer gespült wird. Wir legen gleich an.


Für den gefühlten Höhepunkt der Überfahrt sorgen wir dann selbst, indem wir die Schlüssel im Auto vergessen. Leichte Panik kommt auf, wir rütteln an den Scheiben, nichts zu machen. Binnen weniger Minuten sind zwölf Besatzungsmitglieder und Passagiere zur Stelle, die uns mit mehr oder weniger ausgefeilten Techniken zu helfen versuchen. Einer führt eine Schnur durch den Spalt der Fahrertür ein, macht eine Schlinge hinein und versucht, den Verriegelungsknopf damit zu fassen. Beim dritten Anlauf klappt es tatsächlich. Ein Ruck, und die Tür ist auf. Großer Applaus. Ein Trinkgeld lehnt der gute Mann natürlich ab, aber wir drängen es ihm nach allen Regeln der Kunst auf.

Montag, 19. Januar 2009

Mein Freund Chany

Die Rückkehr nach Chile ist ein Kraftakt. Den zehnstündigen Aufenthalt in Zürich haben wir mit Bedacht gebucht, um dort Freunde zu treffen, damals war freilich noch nicht die Rede von zwei vergrippten Kindern gewesen. Hätten wir deswegen auf das Walliser Fondue verzichten sollen? Später, hoch über dem Atlantik, senkt flüssiges Paracetamol das Fieber auf ein erträgliches Maß, und mehr als eine Speitüte wandert körperwarm in den Müllschlucker der Flugzeugtoilette.

S. und die Kinder fliegen weiter nach Puerto Montt, ich bleibe zur Quarantäne noch ein bisschen in Santiago. Chany geht gleich ans Telefon: Klar kann ich bei ihm übernachten. Bis er von der Arbeit kommt, kann es neun Uhr abends werden, ich soll es mir solange bei ihm schon mal gemütlich machen. Das tue ich. Chanys Haus liegt in einem ziemlich armen Viertel von Santiago, es ist eine wunderbare Mischung aus Baustelle, Rumpelkammer und Oase. Ich dusche mir die Reise vom Leib, brate etwas fürs Abendessen an, lege die Beine hoch, warte. Mir wird langweilig. Ich fege ein bisschen. Ich verjage die Katzen, die in der zum Hof offenen Küche versuchen, die Hähnchenflügel aus der Pfanne zu angeln. Es ist jetzt elf. Ich lese in der Zeitung. Meine Augen brennen. Jetzt ist es Mitternacht, in Deutschland vier Uhr morgens. Um halb eins zerre ich die Gästematratze aus der Ecke und schlafe.

Als ich aufwache, ist es halb sieben. In Deutschland. In Santiago ist es halb drei in der Nacht, und ich wache auf, weil mein Freund Chany mir das Laken wegzieht und die Füße kitzelt. Ich bin müde wie ein Hund und fluche, er lacht. Weißt du wie spät es ist?, frage ich ihn. Heul doch, sagt er. Ich soll aufstehen und noch was trinken, mit ihm und seiner Freundin, die immerhin Erbarmen mit mir hat und mich wieder zudeckt. Chany kitzelt weiter. Ob ich etwa früh aufstehen müsse? So geht das noch eine ganze Weile, mein Freund, der studierte Psychologe, reißt Witze auf meine Kosten, das Licht brennt, ich liege schlaftrunken mitten im Zimmer auf dem Boden und frage mich, warum wir überhaupt Freunde sind.

Die Frage ist allerdings leicht zu beantworten. Chany habe ich vor fast zwanzig Jahren bei meinem Ersatzdienst kennen gelernt, ich bekam über ihn Familienanschluss und politische Schulung (er war damals Jungkommunist), später mieteten wir gemeinsam ein winziges Häuschen, dessen Außenmauern ein anderer Freund mit künstlerischer Ader im Agitprop-Stil dekorierte und wo wir Feste feierten, an die man sich später nur mit Mühe erinnern konnte. Aus Platzgründen und Sympathie teilten wir sogar die Matratze, weshalb uns manche neugierigen Nachbarn für schwul gehalten haben mögen, worauf ich damals aber nie gekommen wäre – wir waren einfach nur beste Freunde. Uns verband unser Sinn für Humor – insbesondere für Kalauer -, aber auch die Nikotinsucht, die uns manchmal früh morgens auf der verzweifelten Suche nach Rauch- oder Zündwaren aus dem Haus trieb. Später besuchte Chany mich in Deutschland, und wir sind Freunde geblieben, vielleicht nicht beste, aber wer weiß das schon mit Sicherheit.

Inzwischen ist es tatsächlich hell geworden in Santiago. Chany schlurft aus seinem Schlafzimmer, kratzt sich ausgiebig überall und ist plötzlich sehr freundlich. Natürlich werfe ich ihm sein Fehlverhalten vor, aber er behauptet, sich nicht erinnern zu können, er habe auf der Party zu viel getrunken. Party? Ach, egal. Lass uns nachher auf die feria gehen, sagt mein Freund und setzt sich aufs Klo, ohne die Tür zu schließen, ich habe da eine hübsche Kommode gesehen, vielleicht kann ich die noch etwas runterhandeln. Die feria ist ein großer Open-Air-Lebensmittel- und Flohmarkt, wo Chany fast jeden Sonntag irgendwelche antiken oder einfach nur alten Sachen kauft, Schilder, Flaschen, Möbel, Geräte, die dann in seinem Hof herumstehen, unter dem Weinstock und dem Zitronenbaum.

Erstmal kaufen wir aber Fisch. Ganz in der Nähe kennt mein Freund "die beste Fischhandlung weit und breit", es ist ein winziger Laden in einer staubigen Sackgasse, aber der Umsatz stimmt, die wartende Kundschaft tritt sich auf die Füße, während der Fischhändler und seine Frau hinterm Tresen merluzas und reinetas filetieren. "Die Auswahl hier ist hervorragend", sagt Chany auffällig laut zu mir, "schade, dass der Fisch selten frisch ist." An dieser Stelle drehen sich natürlich alle um, auch Don Pato, der Händler, der, wie Chany längst weiß, ein Faible für krude Späße hat. Im Dialog, der sich nun entspinnt, geht es einerseits weiter um Frische und Größe der angebotenen Fische und andererseits darum, dass Chanys Schwiegermutter beim letzten Einkauf angeblich Zweifel an seiner (nichehelichen) Treue zu ihrer Tochter geäußert haben soll, ein Gerücht, dass Don Pato offenbar in diesem Augenblick frei erfindet. Das ist alles sehr lustig, und fast habe ich Chany die nächtliche Schikane verziehen.

Später, auf der feria (die Kommode ist noch da, aber nicht billig genug) kaufen wir Obst und Gemüse. Immer, wenn die Händler routiniert zur Plastiktüte greifen, ruft Chany: Halt, tun sie's hier rein! Den blauen Stoffbeutel, den er ihnen hinhält, gab es vor ein paar Monaten bei Líder an der Kasse zu kaufen, außer meinem Freund habe ich nie jemanden gesehen, der ihn benutzt hätte. Ich tue, was ich kann, um ökologisches Bewusstsein zu schaffen, sagt Chany, das habe ich bei dir in Deutschland gelernt. Er sagt es ganz ernst, aber diese Art von Ernst kenne ich. Und ich weiß jetzt auch wieder, warum wir Freunde sind.