Noch fast sechs Wochen Sommerferien - wir nutzen die freie Zeit und fahren auf der Carretera Austral in den Süden, den tiefen Süden. Die nur in Teilen asphaltierte Straße erstreckt sich über tausend Kilometer in Richtung Feuerland, um irgendwann am Campo de Hielo Sur, dem größten nichtpolaren Gletscherfeld der Erde, zu enden. Weiter nach Süden geht es nur über Argentinien. Die Gegend links und rechts der Carretera, die größtenteils unter Pinochet ausgebaut wurde und deshalb fast "Carretera General Pinochet" geheißen hätte, ist bergig und wild, sie überquert milchig blaue Flüsse auf Hängebrücken, aber sie ist beinahe menschenleer. Hier und da das Holzhäuschen einer "Siedlerfamilie", die ein paar Kühe oder eine kleine Schafherde ihr Eigen nennt. Die wenigen Touristen verlieren sich in der Weite.
Das erste Teilstück hinter Puerto Montt muss auf dem Seeweg zurückgelegt werden. Unwegsames Gelände, Geldmangel und Gebietsstreitigkeiten mit dem Naturschutz-Großgrundbesitzer Douglas Tompkins haben den Lückenschluss bislang verhindert. Wir schiffen uns in Hornopirén auf einer Autofähre der Naviera Austral ein, um in neun Stunden bis zur vom gleichnamigen Vulkan verwüsteten Stadt Chaitén vorzudringen. Der Vulkan raucht weiter, aber das Risiko ist mittlerweile soweit gesunken, dass die Behörden die Rückkehr von Bewohnern und die Durchfahrt von Besuchern tolerieren.
Solche Fahrten haben ihre eigene Dynamik. Erst erkundet man die zugänglichen Winkel des Schiffs, sucht sich ein Eckchen mit Ausblick und lässt den Blick über die weite, graue Wasserfläche und die wolkenverhangenen Berge schweifen. Man beobachtet die glatte Spur, die die Maschine hinten in die Wellen zieht, und die der Seegang nach ein paar hundert Metern wieder verwischt. Man fragt sich, wie man neun Stunden Fahrt ohne Langeweile überstehen soll. Irgendwann beginnt man die Mitreisenden zu beobachten: den kantigen Mann mit Glatze, der das "Geisterhaus" auf deutsch liest, die Chilenin, die Tagebuch schreibt, die jungen argentinischen Ausflügler, die vorne an der Reling Bierdosen vernichten. Man wird sich ein bisschen vertraut. Man spielt Karten, man wartet.
Dann ist da noch der Kapitän, oder der, den ich für den Kapitän halte, weil er die schmuckeste Uniform trägt. Ein deutscher Name prangt goldgestickt auf seiner Brust, und er erzählt gerne seine Familiengeschichte, vom deutschen Großvater, der eine Spanierin heiratete und mit ihr nach Chile auswanderte. Er erzählt überhaupt gerne Anekdötchen, etwa über die kleine Insel mit der merkwürdigen Form, die wir gerade passieren: "Wir nennen sie den 'Teufelshut'", sagt er. "Die Felskanten fallen so steil ab, dass es praktisch unmöglich ist, das Plateau zu erreichen. Nur einer hat es einmal geschafft. Aber er ist nie wieder runtergekommen." Er freut sich diebisch über die Pointe.
Irgendwann wird das Wasser bräunlich weiß: die Asche des Vulkans, die in Chaitén ins Meer gespült wird. Wir legen gleich an.
Für den gefühlten Höhepunkt der Überfahrt sorgen wir dann selbst, indem wir die Schlüssel im Auto vergessen. Leichte Panik kommt auf, wir rütteln an den Scheiben, nichts zu machen. Binnen weniger Minuten sind zwölf Besatzungsmitglieder und Passagiere zur Stelle, die uns mit mehr oder weniger ausgefeilten Techniken zu helfen versuchen. Einer führt eine Schnur durch den Spalt der Fahrertür ein, macht eine Schlinge hinein und versucht, den Verriegelungsknopf damit zu fassen. Beim dritten Anlauf klappt es tatsächlich. Ein Ruck, und die Tür ist auf. Großer Applaus. Ein Trinkgeld lehnt der gute Mann natürlich ab, aber wir drängen es ihm nach allen Regeln der Kunst auf.
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