Freitag, 15. Januar 2010

Wer sticht?

Aus gebührendem Abstand (Argentinien/Uruguay) beobachtet der Blogger das Geschehen in den letzten Tagen vor der Stichwahl in Chile. So wie es aussieht, wird das Ergebnis sehr, sehr knapp ausfallen - aber wahrscheinlich zugunsten von Dollarmilliardär und Tausendsassa Sebastián Piñera. Trotz des (wenig enthusiastischen) Bekennntnisses von Marco Enríquez-Ominami zum Kandidaten der Concertación, Eduardo Frei. Siehe auch hier.

Wenn 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur und zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder ein rechter Kandidat die Präsidentschaftswahl gewinnt, liegt das auch und vielleicht in erster Linie an all denen, die von den Regierungen der Concertación so enttäuscht sind, dass sie einen leeren oder ungültigen Stimmzettel angeben werden (für alle, die ins Wahlregister eingetragen sind, besteht Wahlpflicht). Wir haben in den vergangenen Wochen mit mehr als einem von ihnen gesprochen, und wenn man ein wenig nachbohrt, geben die meisten zu, dass eine Regierung Frei wohl tatsächlich ein wenig sozialer, liberaler und partizipativer wäre als eine Regierung Piñera. Aber dass die regierende Koalition seit Jahren mehr mit politischen Hahnenkämpfen und Korruptionsskandälchen Schlagzeilen macht als mit der immer wieder versprochenen Verfassungsreform oder anderen Großprojekten, das wollen sie ihr irgendwie nicht verzeihen.
Manche, die aus dem marxistischen Lager stammen, sprechen leicht verschämt davon, eine rechte Regierung sei doch auch eine Chance: weil sie "die gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen" würde. So richtig scheinen sie selbst nicht an diese These zu glauben.

(Wegen Urlaub wird das Blog in den kommenden Wochen weiter auf Sparflamme köcheln.)

Mittwoch, 6. Januar 2010

Sauber und gebrochen

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Ein Mann kommt an am Flughafen von Santiago, zusammen mit seinem kleinen Sohn. Sie besteigen ein Taxi, später die U-Bahn. Gemeinsam staunen sie über die moderne Stadt, in der die Autobahn aus Platzgründen unter den Fluss gelegt wurde und die metro sauberer ist als zuhause in ... Berlin. Am Ende will der neugierige Junge die Moneda betreten, den Ort wo Allende starb und Pinochet regierte, der Vater erschrickt und will ihn aufhalten, aber dann sagt die freundliche junge Dame, die den Präsidentenpalast gerade verlässt, dass der Lucas natürlich gerne hineindarf. So sehr hat sich Chile verändert.

Die kleine Geschichte ist Teil des aktuellen Wahlkampfspots von Eduardo Frei. Richtig ist, dass Santiago in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Modernisierungsschub durchgemacht hat. Dass die Stadt wächst und brummt und glänzt (wenn auch nicht an allen Stellen). Und dass die in den vergangenen Jahren großzügig ausgebaute U-Bahn in der Tat besser, schneller und unvergleichlich sauberer ist als ihr Berliner Pendant. Die metro von Santiago beschleunigt sogar ihre Linien durch ein ausgeklügeltes Express-System, bei dem zu den Stoßzeiten nicht alle Züge auf allen Bahnhöfen halten. Von so viel Innovation kann man in Deutschland nur träumen.

Falsch ist, dass jeder jederzeit durch die Höfe der Moneda spazieren kann. Theoretisch ginge das, aber ich habe es noch nie geschafft. Aus irgendwelchen Sicherheitsgründen ist der Zugang immer gerade eingeschränkt.

Absurd ist, dass der (wenn ich den Plot richtig begriffen habe) in Deutschland aufwachsende Sohn eines Chilenen, der, seinem Alter nach zu urteilen, selbst als Kind ins Exil gegangen sein muss, stark gebrochen Deutsch spricht. Aber ist ja nur Fernsehen und merkt ja - fast - keiner.

Dienstag, 5. Januar 2010

Ein Folterzentrum mit vier Masten

Ni blanca, ni pura / fue centro de tortura.
Ni blanca, ni pura / fue centro de tortura.
Ni blanca, ni pura / fue centro de tortura.

Mehrere Dutzend mal rufen die Demonstranten diesen Spruch aus Leibeskräften und mit Hilfe eines einzelnen Megafons über das Hafenbecken. Dort wird gerade die "Esmeralda" aufs offene Meer hinausgezogen, das Segelschulschiff und der ganze Stolz der chilenischen Marine. Aber rein und weiß ist der Viermaster eben nur äußerlich: Im Jahr 1973 diente er den putschenden Admirälen als Fol­ter­zentrum. Vor Anker in der Bucht von Valparaíso, wurden in den Tagen und Wo­chen nach dem 11. September über hundert politische Gefangene an Bord ge­bracht und zum Teil schwer misshandelt.

Einer von ihnen starb am 22. September '73 an den Folgen der Folter: der katholische Arbeiterpriester Miguel Woodward. Der 1930 geborene Sohn einer Chilenin und eines Engländers war in Chile und Großbritannien aufgewachsen. In den Sechzigerjahren geriet er zunehmend in Konflikt mit seiner Kirche, arbeitete in einer Werft von Valparaíso als Dreher und baute sich ein Häuschen in einem armen Viertel. Auch politisch aktiv war er in den Jahren vor dem Putsch: Er schloss sich dem MAPU an, einer Abspaltung der Christdemokraten, innerhalb der Unidad Popular von Salvador Allende. Mit diesem Profil war er den Putschisten mehr als suspekt.

Immer, wenn die "Esmeralda" auf eine ihrer Weltumseglungen geht, stehen Freun­de und Verwandte von Opfern und somit auch von Miguel Woodward am Ha­fen, um Gerechtigkeit und Aufklärung zu fordern. Viele sind es nicht, mal zwan­zig, mal dreißig, mal weniger. Sie lassen sich nicht beirren: "Solange keiner der Ver­ant­wortlichen für Miguels Ermordung verurteilt ist, werden wir hier stehen und an­kla­gen", sagt Jaime, der Philosophieprofessor. Mit ihm demonstrieren heute auch ei­ni­ge Ex-Marinesoldaten, die im Vorfeld des Putsches von ihren Posten entführt und ebenfalls gefoltert wurden, weil sie verfassungstreu waren und den Umsturz ablehnten.

Jaimes Frau Myriam ist Kindergärtnerin, sie hat eine Spruchband-Rolle auf dem Weg zum Hafen mit Geschenkpapier getarnt - um nicht von Polizei oder Marine am Demonstrieren gehindert zu werden. Die armada möchte ihr Image nicht beschmutzt sehen, wenn die Rekruten auf große Fahrt gehen. Weil die Familien der jungen Matrosen sich zum Abschied auch am Hafen versammeln, stellen sich die Demonstranten immer ein wenig entfernt auf. "Einmal standen wir ne­ben­einander, da wurden wir von den Angehörigen beschimpft", erzählt Myriam. Sie weiß aber auch, dass in vielen Ländern, in denen die "Esmeralda" anlegt, Men­schen­rechtsgruppen bei der Ankunft des Schiffes demonstrieren. Immer wie­der. Es ist eine Strategie der Beharrlichkeit.

Die Strategie der Sicherheitskräfte bezüglich der Demonstranten besteht offenbar darin, diese zu ignorieren. Nach Abschluss der Kundgebung am Hafen zieht die kleine Gruppe unbehelligt vor das zentral gelegene Gebäude der ehemaligen Regionalregierung, seit Pinochets Tagen Hauptsitz der Marine. Niemand schreitet ein, niemand schaut aus dem Fenster. Auch das Fernsehen zeigt am Abend lediglich die Abschiedsszenen der Matrosen und ihrer Familien. Die Freunde von Miguel Woodward und die anderen Aktivisten lassen sich davon nicht ver­un­sichern. Sie werden zur Stelle sein, wenn die Esmeralda im August von ihrer 55. Ausbildungsfahrt nach Valparaíso zurückkehrt.

Sonntag, 3. Januar 2010

Entspannt knallen lassen


Ich plädiere hiermit für die Verlegung der deutschen Silvesterfeier in die Som­mer­mo­na­te. Außerdem muss schnellstmöglich der Raketenverkauf un­ter­bun­den werden. Wer erlebt hat, wie man das neue Jahr in Viña del Mar be­grüßt, kann zu keinem anderen Schluss kommen.

Gut, Viña ist immer noch ein Badeort für Besserverdienende und nur bedingt repräsentativ für das chilenische año nuevo. Aber grundsätzlich wird klar: Ein professionell abgebranntes Feuerwerk in einer lauen Nacht zu betrachten, ist deutlich besser, als mit Aldi-Raketen die Winterluft zu vernebeln. Das Knallzeug, von Wunderkerzen und ähnlichem abgesehen, haben die chilenischen Behörden vor ein paar Jahren aus den Läden verbannt, weil sich schwere Unfälle häuften. Ei­ne Revolte gab es deshalb nicht.

Um aus Silvester ein so friedlich-ausgelassenes Fest zu machen, wie es an der Bucht von Valparaíso gefeiert wird, müsste man den Deutschen freilich auch noch das massenhafte Biersaufen, Grölen und S-Bahn-Vollkotzen verbieten. In Chile, wo öffentlicher Alkoholkonsum grundsätzlich untersagt ist, wird gerade mal ein Fläschchen Sekt in der Silvesternacht toleriert. Das trinken viele dann am Strand oder auf der Uferpromenade, wo sie einen Campingtisch aufgebaut und mit Kon­fet­ti verziert haben. Als das pyrotechnische Spektakel vorbei ist, fließt die rie­si­ge Menschenmasse langsam, aber entspannt aus der Feierzone, es gibt kein Ge­brüll, keine bösen Worte, kaum Scherben. Ein Traum.