Sonntag, 28. Dezember 2008

Folgenschwere Irrtümer

Wer hätte das gedacht - dass irgendwann die große, unerfüllbare Hoffnung der Hinterbliebenen von verschwundenen Opfern der Diktatur sich in ihr Gegenteil verkehren würde? Dass sich der schreckliche Verdacht und, später, die schreckliche Gewissheit doch als falsch herausstellt - und keiner freut sich darüber? Nachdem Mitte November ein Mann in Argentinien aufgetaucht war, dessen Name auf der langen Liste der detenidos desaparecidos stand, gibt es jetzt neue Zweifel in drei weiteren Fällen - von offiziell anerkannten 1.183. Für Organisationen wie die Vereinigung der Familienangehörigen Verschwundener (AFDD) ist das ein schwerer Schlag - denn es liefert den ewiggestrigen Pinochetanhängern und der rechten Opposition willkommenes Futter.

Im Gegensatz zu dem seit Jahrzehnten im argentinischen Mendoza wohnhaften Germán Cofré, den die Fernsehkameras in Fleisch und Blut einfangen konnten, sind zwei der jetzt in Frage stehenden Personen offenbar längst tot. Eine Frau, die als Verschwundene galt, soll bereits in den 50er-Jahren gestorben, ein weiterer Mann in den Tagen nach dem Putsch im September 1973 ums Leben gekommen sein - freilich (wenn die neuen Informationen zutreffen) in einem ganz anderen Zusammenhang. Ein dritter könnte noch leben, und zwar ebenfalls in Argentinien - dafür gibt es nach Angaben der Regierung "Beweise aus der jüngsten Vergangenheit", ein aktueller Aufenthaltsort ist aber nicht bekannt.

Dass diese Informationen aufgetaucht sind, steht in direktem Zusammenhang mit dem "Fall Cofré": Die Regierung Bachelet hatte angesichts des medialen Aufruhrs eine Neuüberprüfung der Verschwundenen-Liste durch die entsprechenden Behörden angefordert. Inzwischen liegt ein ausführlicher Bericht vor.

Kein Grund zur Aufregung, könnte man meinen - drei oder vier Irrtümer fallen bei einer so großen und nun wiederholt geprüften Zahl doch kaum ins Gewicht. Für die öffentliche Meinung sind sie aber Gift, zumal es auch um Geld geht, um Schmerzensgeld, Renten und Stipendien, die den Hinterbliebenen ausgezahlt wurden und werden. Wer in diesen Tagen die Leserbriefe und Web-Kommentare der Zeitungen studiert, stößt auf Abgründe von Gehässigkeit: "Verlogene Kommunisten, ihr lasst es euch im Ausland gutgehen, macht Chile schlecht, und eure Familien schmarotzen zu Hause vom Staat", so oder ähnlich der Tenor vieler Schreiberlinge.

Die Regierung ist nun, etwas überstürzt, in die Gegenoffensive gegangen: Sie hat die Geldleistungen für die betroffenen Familien kurzerhand eingestellt und angekündigt, die beiden "Wahrheitskommissionen" wieder zu eröffnen, die die Verbrechen der Diktatur dokumentiert haben. Die nach ihren jeweiligen Vorsitzenden benannten Kommissionen - Comisión Rettig und Comisión Valech - könnten sich dann auch mit Fällen befassen, die seit ihrer Schließung aufgetaucht sind und deshalb keinen Eingang in die offizielle Erhebung gefunden haben. Laut Aussage des Innenstaatssekretärs Patricio Rosende sind das "viel mehr als die jetzt entdeckten Irrtümer".

(Fotos: Das Denkmal für die von der Diktatur Ermordeten und Verschwunden auf dem Hauptfriedhof von Santiago)

Mittwoch, 24. Dezember 2008

Winter mit W-Lan

Nur für den Fall, dass der letzte Post ein wenig zu düster ausgefallen sein sollte: Natürlich hat der deutsche Winter auch seine Vorzüge. Je hässlicher das Außen, desto schöner das Innen - zum Beispiel geschützte, warme Räume mit In­ter­net­zu­gang und urbanen Snacks. Wer rät den Ort?

Montag, 22. Dezember 2008

Kannickma

Nach so vielen Monaten in einem lateinamerikanischen Land verdrängt man bisweilen, dass man selbst gar nicht dunkelhaarig und -häutig ist, wie die meisten, die einen umgeben – eine, lediglich gefühlte, Mimesis mit dem Mestizentum sozusagen. Die eher unterdurchschnittliche Körpergröße des Autors macht sich in Chile dagegen bezahlt, wo man mit 1,74 Metern leicht über dem Durchschnitt liegt, aber nicht aus dem Rahmen fällt.

Dann kommt man zurück, auf Heimaturlaub. Und hat für ein paar Tage oder auch nur Stunden die Chance, die eigene Welt mit den Augen eines Latinos zu sehen. Schmeichelhaft ist das nicht unbedingt. Der Deutsche, jedenfalls im Winter, jedenfalls in der Berliner S-Bahn, ist groß, massig gar, und trägt auf dem Hals einen blassen Quader, aus dem eine spitze, beinahe dreieckige Nase ragt. Auf dem Kopf trägt er fusselige Haare, oft auch keine. Er redet laut und bedeutsam, bisweilen wichtigtuerisch.

Natürlich sind das Klischees, aber genau so kann man es wahrnehmen, wenn man aus dem sommerheißen Chile in den Berliner Dezember stolpert. Überhaupt: Berlin. So grandios hässlich, wie die Stadt sich auf der Fahrt von Tegel nach Grünau präsentiert, hatte man sie dann doch nicht in Erinnerung. So viel Grau. Das Grau der schmutzigen ICEs, der billigen Lochfassaden. Asphaltgrau, stahlgrau, himmelgrau. Zur Auflockerung die "Alexa" in altrosa. Sexy ist das nicht.

Die Hässlichkeit der Stadt spiegelt sich im abwesenden Blick der S-Bahn-Fahrgäste wider, der teilnahmslos aus dem Fenster geht. Den meisten scheint es nicht gut zu gehen, die Mienen signalisieren Depression oder Angriffslust. Oder dass das hier alles eine Zumutung ist. Am Ostkreuz betrachtet ein älteres fran­zö­si­sches Touristenpaar mit mittelmäßigem Interesse die farblich gekennzeichneten Mülleimer. "Verre, papier, plastique ...", zählt der Mann leise auf, als ein jüngerer, mit Basecap und starrem Blick, ihn – "Kannickma?" – unterbricht und beginnt, den Inhalt des Glasabteils nach Pfandgut zu durchwühlen.

Die Jugendlichen in der S-Bahn lachen nicht, sie trinken breitbeinig Bier. Auf dem Bahnsteig wird gierig geraucht, während der Zug einfährt. Noch so ein Klischee: In Chile, möchte man sagen, sind viele Menschen schlechter dran. Aber nicht ganz so abgegessen.

Dann beruhigt man sich, saugt tief die weiche, feuchte Dezemberluft ein ("Na, fahrt ihr in den Schnee?", hatten die Chilenen unisono gefragt) und fühlt sich schon ein bisschen wohler. Die Berliner Wintermelancholie ist ja auch etwas zutiefst Vertrautes. In den Nebenstraßen am Stadtrand ist es sehr dunkel, sehr einsam und sehr still, kein Hundekläffen ist zu hören und kein Reggaeton. Das werden besinnliche Tage.

PS: In den kommenden Wochen wird das Blog auf Sparflamme gesetzt. Mitte Januar geht es zurück nach Chile und weiter im Text.

Freitag, 19. Dezember 2008

Abrutschende Häuserzeilen

Am vergangenen Donnerstag hat in Zentralchile die Erde gebebt. Der temblor*, dessen Epizentrum 75 Kilometer nördlich von Valparaíso im Pazifik lag, erreichte Stärke 5,9 auf der Richterskala, zunächst war von Stärke 6,3 die Rede gewesen (was durchaus einen Unterschied macht).

Trotzdem ein starkes Beben - aber nach Auskunft der Ka­ta­stro­phen­schutz­be­hör­de Onemi gab es weder Personen- noch Sachschäden. Nur einige Telefonnetze seien zeitweilig gestört gewesen: Weil jeder, sobald der Boden wieder gerade steht, die gesamte Familie abtelefoniert, um sich nach deren Befinden zu er­kun­di­gen. Gegen Beben mittlerer Stärke scheint Chile mittlerweile ganz gut ge­wapp­net zu sein.

In diesem Zusammenhang fällt einem in Chile sofort das "Skandalvideo" ein, ein Dokumentarfilm des populärwissenschaftlichen Senders National Geographic Channel, der im Jahr 2006 für Aufruhr sorgte. Mit computergenerierten Bildern hatten die Autoren das Szenario eines Mega-Bebens in der Bucht von Valparaíso dargestellt:



Die abrutschenden Häuserzeilen, zerbröselnden Autobahnbrücken und ein­stür­zenden Hochhäuser gefielen dem damaligen Bürgermeister überhaupt nicht, und er kündigte an, eine Klage gegen den Sender zu prüfen - wegen Trau­ma­ti­sie­rung und Imageschädigung. Weiter verfolgt hat er die Idee dann nicht, denn selbst der Vorsitzende der chilenischen Tourismusbehörde fand den Vor­wurf, National Geographic vergraule mit diesen Worst-Case-Bildern die Tou­ris­ten, eindeutig übertrieben.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Bilder weiterhin Fiktion bleiben.

Nochmal: Schuhe

Heute: Was The Clinic zur Schuhattacke auf George W. Bush einfiel.

Dienstag, 16. Dezember 2008

Amerika, du hast es besser

Fliegende Schuhe gibt es auch in Chile. Freilich mit gewissen Unterschieden: Erstens handelt es sich nicht um Größe 10, sondern um einen deutlich kleineren Damenschuh. Zweitens ist die Flugbahn des Schuhs nicht auf ein Staatsoberhaupt gerichtet, sie nimmt vielmehr dort ihren Anfang. Drittens geht es nicht um Krieg, sondern um die Einweihung eines Fußballstadions. Niemand wurde fest­ge­nom­men, es gab auch keine Autokorsos. Nur Videos auf Youtube. So viel zum The­ma fliegende Schuhe.

Montag, 15. Dezember 2008

Müll

Dass unser Leben in Chile auch nur entfernt mit dem Begriff "Nachhaltigkeit" in Verbindung gebracht werden könnte, muss man leider verneinen. Während wir den Alltag in Berlin längst ökologisch feinjustiert hatten und im Stillen Kilowatt addierten wie Magersüchtige Kalorien, lassen wir hier so richtig die Umweltsau raus - nicht weil's Spaß macht, sondern weil die Chancen gering sind, aus dem gesteckten Rahmen auszuscheren.

Man gewöhnt sich aber auch an vieles. Daran, dass "Bio" auf dem Trinkjoghurt steht, der - die Zutatenliste beweist es - nicht einmal Spurenelemente der behaupteten Fruchtsorte enthält. Daran, dass man sich freut, wenn die Tankanzeige stärker ausschlägt als sonst, weil man nach Betrag tankt und das Benzin mal wieder billiger geworden ist. Oder aber an die tausendundeine Plastiktüte, in die die Einkäufe ungefragt gesteckt werden, säuberlich nach Produktgruppen getrennt.

Bleiben wir beim Beispiel: Man kann gegen die Tütenflut anschwimmen wie S.' Kollegin, eine pensionierte Studienrätin, die den ratlosen Einpackern mit tadelndem Blick ihren offenen Rucksack hinhält. Aber so etwas produziert nur Reibungen. Wir dagegen passen uns an und erkennen die Tugend in der Not: Schließlich lassen sich die dünnen, aber stabilen und geräumigen Tüten perfekt zum Müllsammeln verwenden, viel besser jedenfalls als die in Deutschland gängigen Modelle. Und Müll machen wir im großen Maßstab.

Nach ein paar Monaten in einem Land, wo die Menge "Müll" mit der Menge "Restmüll" kongruent ist, fällt es schwer, sich an die Sorgfalt zu erinnern, mit der man in Berlin die
unterschiedlichen Abfallsektionen separierte. Hier kommt alles - alles! - in die großen, grünen, dreckigen Container, die ein paar Ecken weiter an der Straße stehen. Fallen dafür überhaupt Gebühren an? Ja, sagen die Nachbarn nach längerem Nachdenken, einmal im Jahr wird da ein kleiner Betrag auf die Wasserrechnung aufgeschlagen. Merkt man aber gar nicht.

Recycling wäre eine Alternative. Aber wie? Es gibt Wohltätigkeitseinrichtungen, die gebrauchte Wertstoffe sammeln. Eine, die Kindern mit Verbrennungen hilft, stellt Glascontainer auf. Mit leeren Tonerkartuschen verhilft man benachteiligten Jugendlichen zu besserer Bildung, und aus den durch recycelten Plastikmüll generierten Einnahmen werden Familientherapien finanziert, wenn ich das richtig verstanden habe. Dass das alles nur über moralischen Druck funktioniert, ginge ja noch in Ordnung - aber die allermeisten Organisationen sammeln hier in der Provinz überhaupt nicht. So etwas wie Recycling betreiben nur die Müllsammler, die in den Containern mit eigens dafür zurechtgebogenen Stangen nach Brauchbarem stochern. Lustig ist das nicht.

Immerhin haben wir uns ein kleines Ventil geschaffen, um unser latent schlechtes Ökogewissen zu entlasten: einen kleinen Kompost im Garten, wo wir sorgfältig Küchenabfälle und Rasenschnitt aufschichten. Das ist exotisch genug - die fliegenden Rasenschneider, die mit ihren Motorsensen ständig im Viertel unterwegs sind, packen das Grünzeug in Einkaufstüten und schmeißen es in den Container.

Auch eine Form der Müllentsorgung: hungrige Hunde in Puerto Montts Fischerhafen Angelmó.

Sonntag, 14. Dezember 2008

Zehn Höhepunkte

Das 1998 anlässlich Augusto Pinochets Klinik-Arrest in London als anarchistisches Witzblättchen entstandene Magazin The Clinic ist längst über die Satire hinausgewachsen. Woche für Woche finden sich hier hervorragende Interviews, Reportagen und investigative Texte, für die in keinem anderen Medium Platz wäre. Zum zehnjährigen Jubiläum gab es jetzt eine Sonderausgabe, für die man unter anderem den streitbaren Historiker Alfredo Jocelyn-Holt ("Die Republik ist tot, die Zweihundertjahrfeier im Jahr 2010 kann ausfallen") gebeten hatte, die politisch-gesellschaftlichen Höhepunkte der ersten Clinic-Dekade zu notieren. Das Ergebnis in Auszügen (zugegebenermaßen eher was für Chile-Insider, deshalb ohne Glossar und Links):

1) Kritik an der transición
Beginnt mit der Veröffentlichung von Tomás Moulians Chile: Anatomie eines Mythos (...) und einer Reihe von Aufsätzen, die von den Medien kaum gewürdigt wurden. Diese Texte arbeiten heraus, wie die transición, als Deal zwischen Aylwin und Pinochet, in Sachen Wirtschaftsmodell und Verfassung das Erbe der Diktatur antritt. (...)

2) Festnahme Pinochets
Bestätigt letztlich einen gesellschaftlichen Konsens, auch wenn die offizielle Lesart sie als Beweis für die Spaltung des Landes wertet. Die Regierungen der Concertación (...) holen Pinochet nach Hause, um ihm den Prozess zu machen, aber nicht zu verurteilen: der zweite große Deal der transición. (...)

3) Bündnis von Concertación und Großkapital unter Lagos
Die faktischen Machthaber, das Großkapital, die Unternehmer, entschließen sich dazu, den Sozialisten Ricardo Lagos zu unterstützen - auch später lassen sie Michelle Bachelet im Wahlkampf mehr Unterstützung angedeihen als Sebastián Piñera. (...) Lagos schließt Freundschaft mit Ricardo Claro und Agustín Edwards, dessen Zeitung ihn zu "ihrem" Präsidenten macht. (...) Für Carlos Altamirano war Lagos folgerichtig die "beste rechte Regierung der chilenischen Geschichte".

4) Anstieg der Korruption unter der Regierung Lagos
Das MOP-Gate warf ein Licht auf die Grauzone zwischen den öffentlichen Einrichtungen, die riesige Projekte wälzen, und den wirtschaftlichen Interessen, Lobbyisten, Consultants. (...) Die Regierung Lagos war die korrupteste in der chilenischen Geschichte, schlimmer als Pinochet. Die Bereicherung von Politikern der Concertación war außerordentlich: Sie wurden von Habenichtsen zu reichen Leuten, mit den Vorständen großer Firmen auf du und du.

5) Santiago wird zur Megalopole
Ausdruck dieser Entwicklung ist das Verschwinden des Villenviertels El Golf, eines der besten Südamerikas. An seiner Stelle entsteht nun "Sanhattan". Santiago will zur globalisierten Stadt aufsteigen, aber das hat negative Auswirkungen auf die Lebensqualität. (...)

6) "Aufstand der Pinguine"
Spiegelt die Schwäche der transición in Sachen Bildung wider. Eine Million Schüler streiken zwei Monate lang mit großer Unterstützung durch die Bevölkerung. (...) Die Revolte zeigte, dass den Jugendlichen entgegen der verbreiteten Annahme nicht alles egal ist. Ein Grundpfeiler der transición war die Demobilisierung der Bevölkerung. Diese wurde hiermit widerrufen.

7) Scheitern des Transantiago und der Technokratie
Die Unfähigkeit der Technokraten im "Jaguar-Staat" Chile fand ihren Ausdruck im Transantiago. Sein Scheitern war das der Regierung Lagos und der Regierung Bachelet, auch wenn letztere versucht hat, eine gewisse Distanz zur Vorgängerregierung zu wahren. Die technokratische Überheblichkeit (...) stammt aus der Zeit der Chicago Boys - die Wirtschaftsexperten der Concertación waren ihre besten Schüler. Offenkundig geworden ist auch die fehlende soziale Sensibilität der Concertación und von Frau Bachelet, die trotz des entstandenen Chaos ihren dreiwöchigen Sommerurlaub nicht unterbrach.

8) Farandulización des Fernsehens
Das Fernsehen ist das mächtigste Medium, und es galt zu verhindern, dass es zu viel Kritik transportiert. (...) Daher die Banalisierung (...), die in der Beinahe-Kandidatur von Farkas gipfelte, einem Produkt des Promi-Kults, der farándula.

9) Ergebnisse der Kommunalwahlen 2008
Die wichtigsten Wahlen des laufenden Jahrzehnts. Sie legen offen, dass die Parteien sich nicht mehr von oben steuern lassen, was immer ein Merkmal der Concertación gewesen ist (...). "Abtrünnige" aller Parteien haben großes Gewicht bekommen, viele Bürgermeister wollten sich mit keiner Partei identifizieren. Das ist (...) der Anfang vom Ende des binominalen Systems.

10) Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und ihre Auswirkungen auf Chile
Die Auswirkungen der Krise auf ein globalisiertes Wirtschaftssystem wie das chilenische, das von den internationalen Märkten extrem abhängig ist und enorme Verteilungsprobleme aufweist, werden größer sein als anderswo. Allein für das kommende Jahr wurden bereits 400 Bauvorhaben gestoppt.(...) Was die Krise letztlich in Frage stellt, ist das neoliberale chilenische Modell (...).

Freitag, 12. Dezember 2008

Wolken vom Wolkenmann

Chile ist ein Kinderland - jedenfalls aus Kindersicht. Wie überhaupt auf dem amerikanischen Kontinent wird Süßes und Buntes ganz groß geschrieben, und sei es die rosa Zuckerwatte vom fahrenden Händler. Der radelt vorzugsweise am Wochenende durchs Viertel und macht mit einer Plastiktröte auf sich aufmerksam, ein quäkender Ton, den die Kinder sofort aus den Umgebungsgeräuschen filtern. Die Dinger (in J.s Diktion: "Wolken") scheinen aber auch zu schmecken.

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Unrein & begeistert

"Dieser Tage erleben wir eine große Aufregung, Schwestern und Brüder, weil diese Frau zu Besuch kommt, die mit unglaublicher Dreistigkeit eine verrückte Begeisterung entfacht und unzüchtige, unreine Gedanken weckt. Aber die Unreinheit ist eine Kränkung Gottes und ein Schandfleck auf unserem Herzen." So weit der bereits im vorangegangenen Post zitierte Kardinal Jorge Medina. Mit "dieser Frau" meint er natürlich Madonna, und seine Analyse stimmt insofern, als die Begeisterung für die reina del pop in Chile tatsächlich keine Grenzen kennt.

Aus den entferntesten Winkeln des langen Landes sind ihre Verehrer angereist, manche haben laut Presseberichten ihren Job dafür geschmissen, andere kampierten schon vor dem Eingang des Nationalstadions, als die Sängerin sich noch in Buenos Aires von ihren dortigen vier Sticky-&-Sweet-Auftritten erholte. Hier eine hübsche Bildergalerie der eingefleischten Fans.

In allen möglichen Internetforen wird nun über das gestrige erste von zwei Konzerten diskutiert, manche waren ein bisschen enttäuscht, über die Auswahl der Songs oder die Ausstrahlung der Popdiva, die irgendwo anders schon mal más caliente aufgetreten sei (soy muy caliente war einer der wenigen spanischen Sätze Madonnas an ihr Publikum, und im Gegensatz zu manch sprachbemühtem Touristen, der mit einem vermeintlich unverfänglichen Kommentar über das Wetter ins Fettnäpfchen tritt, meinte sie das natürlich wörtlich). Wer Vergleiche über die Tagesform Madonnas anstellen kann, gehört natürlich zu der kleinen Elite, die ihrem Idol nach Gusto hinterherreist. Für alle anderen wird der Besuch der 50-Jährigen aller Wahrscheinlichkeit nach der erste und letzte bleiben.

¡Quedó la cagá!, ruft eine Freundin aus Santiago euphorisch ins Handy: Hier ging es drunter und drüber. Sie sitzt gerade im Stadion, Stunden vor Beginn des zwei­ten Konzerts hat sie sich bereits einen Platz gesichert. Gut für sie, denn so kam sie (und tausende andere) in den Genuss einer Einsing-Extra-Performance, bei der die sehnige Künstlerin sich von der oben erwähnten Begeisterung derart anstecken ließ, dass sie, die Popgöttin, von der Bühne stieg und sich tanzend unters Volk vor der Bühne mischte. Gut, es war die VIP-Sektion, aber immerhin.

Mehr unreine Fakten hier und hier.

Mittwoch, 10. Dezember 2008

Recht und Rache

Am 10. Dezember 2006, vor genau zwei Jahren also, starb Augusto Pinochet Ugarte 91-jährig an Herzversagen. Zu einer Verurteilung für die auf seine Weisung geschehenen Verbrechen war es nicht mehr gekommen.

Auf der Figur Pinochets liegt bis heute ein Tabu - erwähnt wird der Diktator höchstens, wenn man sich mit seinen Gesprächspartnern einer Meinung weiß. Aber dann verwendet man in den meisten Fällen schon nicht mehr den bürgerlichen, sondern Kose- oder Spottnamen. Mi general, mein General, sagen die fanatisierten Anhänger in Anlehnung an die korrekte militärische Anrede, während er bei den anderen Pinocho (Pinocchio), Perrochet (von perro, Hund) oder aber, in Anspielung auf die vom General veruntreuten und auf ausländische Konten verbrachten Staatsgelder, Robochet (von robo, Diebstahl) heißt*.

Oben: Vor einem Jahr war's ein Jahr her.
Unten: Pinochet-Fans bei dessen Totenfeier vor zwei Jahren (Foto: The Clinic)

Am gestrigen zweiten Todestag wurde auch die Komplizenschaft zwischen einflussreichen Teilen der katholischen Kirche und den Putschisten von '73 wieder einmal mehr als deutlich. Kardinal Jorge Medina ließ es sich nicht nehmen, eine Gedenkmesse in der Militärkathedrale zu zelebrieren und in seiner Predigt Pinochets Opfer moralisch zu diskreditieren:

Unser Land braucht die Vergebung, es ist der einzige Weg zum Frieden. Statt zu vergeben, verlangen aber viele "Gerechtigkeit" - ein Wort, das ein anderes, hässlicheres Wort verbirgt, das sie sich nicht trauen auszusprechen. Dieses Wort heißt "Rache”.

Der Kardinal, von 1998 bis 2002 Präfekt der vatikanischen Gottesdienst-Kongregation, ist also der Ansicht, die Opfer müssten vergeben - obwohl niemand sie um Vergebung gebeten hat -, und die juristische Aufarbeitung von Verbrechen einzufordern hält er für den Ausdruck archaischer Rachegelüste - wo doch gerade die Herstellung von Gerechtigkeit Rache überflüssig macht.

Dabei hatte man eben erst mit einem anerkennenden Nicken zur Kenntnis genommen, dass der Vatikan auch dank Medinas Einfluss die "Legionäre Christi" kritisch ins Visier genommen hat. Die extrem konservative katholische Priester- und Laien-Kongregation genießt unter den Reichen und Mächtigen Lateinamerikas zunehmende Beliebtheit. Allerdings ist die offenkundige Abneigung Kardinal Medinas gegenüber den "Legionären" in erster Linie den Praktiken ihres Gründers, des Mexikaners Marcial Maciel, geschuldet, dem sexueller Missbrauch von minderjährigen Seminaristen vorgeworfen wurde. Mehr dazu hier.

*Auch danach, wie die Chilenen das Pinochetregime bezeichnen, lassen sie sich in zwei klar umrissene Lager teilen - die, die es als dictadura, und jene, die es euphemistisch als gobierno militar bezeichnen. Seinen bevorzugten Begriff unbedacht im "falschen" sozialen Kontext zu verwenden, ist für die jeweilige Unterhaltung absolut tödlich.

Montag, 8. Dezember 2008

Das Eigene und das Andere

"Als wir letztens in Mexiko waren, habe ich mich regelrecht geschämt", berichtet Patricio. "Jedes Schulkind kann im Schlaf herbeten, wann die Mexicas Tenochtitlan gegründet haben. Weil die Mexikaner stolz sind auf ihre indigenen Vorfahren. Und was wissen unsere Kinder von ihren Wurzeln? Nichts. Wir schämen uns dafür." Patricio ist der Mann von Adriana, die in Puerto Montt die regionale Einheit der Drogenpräventionsbehörde Conace leitet. Auf dem Familienausflug von J.s Montessori-Kindergarten, wo Patricio seiner Enttäuschung Luft macht, haben die Gespräche ein erfreuliches Niveau, denn die nach hiesigen Maßstäben ziemlich alternative Einrichtung übt auf Intellektuelle eine besondere Anziehungskraft aus (was man von S.' und B.s Schule nicht unbedingt behaupten kann - sie besucht, wer einmal einen Beruf zum Geldverdienen erlernen will bzw. soll).

Patricios Klage ist etwas überspitzt, denn auch viele Chilenen kennen sich zufriedenstellend mit der Geschichte ihres jungen Landes aus. Außerdem ist Chile nicht Mexiko, und die kulturellen Errungenschaften der Mapuche mit denen der Azteken gleichzustellen, wäre gut gemeint, aber vermessen. Aber die kulturelle Selbstvergessenheit der Chilenen gibt es tatsächlich, und wir haben sie eine Woche zuvor ausgerechnet auf der Abschlussfeier der Montessori-Schule beobachten können. Alle Gruppen vom Kindergarten aufwärts hatten etwas Szenisch-Musikalisches einstudiert, aber bis auf einen Osterinsel-Tanz mit Baströckchen und Federschmuck war alles made in the USA. Der ästhetisch wie pädagogisch fragwürdige Höhepunkt: Eine Gruppe von Sechs- oder Siebenjährigen spielte (80er-Retromode!) Michael Jacksons "Thriller"-Video nach.

In Deutschland hätte die Forderung nach einer höheren Bewertung der eigenen Kultur einen üblen Beigeschmack, aber in Chile geht das schon in Ordnung. Die Militärs hatten mit der fruchtbaren künstlerischen Produktion unter Allende kurzen Prozess gemacht, und der lang anhaltende wirtschaftliche Boom, der auf die trüben Jahre der Diktatur folgte, hat dem Land in erster Linie eine Kultur der Imitation und des Konsums beschert. Obwohl die Regierungen der Concertación über den Consejo de la Cultura y las Artes durchaus nicht wenige Mittel und Ideen in diesen Bereich investieren.

Gleich am Abend kommen wir in den Genuss einer kulturellen Großveranstaltung der anderen, ja: besseren Art, zu der uns Manuela noch auf dem Ausflug eingeladen hat. Ihr Mann ist der Vorsitzende des regionalen Kulturrats, und Puerto Montt richtet in seinem nagelneuen Convention-Center das jährliche chile+cultura-Fest aus, mit dem man der kulturellen Produktion vor Ort eine Bühne geben will. Die Mischung ist gewagt, im Foyer gibt es Videoinstallationen zu sehen, aber auch geschnitzte Hirsche und Segelboote von einheimischen Kunsthandwerkern.

Bei der von Chiles umtriebiger Kulturministerin Paulina Urrutia persönlich moderierten Bühnenshow treten dann unter anderem ein Jugend-Folkloreensemble und die Big Band von Puerto Varas auf, und Jugendliche aus einem besonders armen Viertel von Puerto Montts ohnehin armer Satellitenstadt Alerce haben aus Stoff, Styropor und Pappmaschee riesige Puppen gebastelt, darunter einen kiffenden Bob Marley und eine Violeta Parra. Alles in allem ein nettes Event, nur schlecht besucht. Statt der erwarteten 3.000 Zuschauer sind wohl gerade einmal halb so viele gekommen. Die anderen treffen wir später bei Jumbo, wo man im Parkhaus in zweiter Reihe halten muss.

Freitag, 5. Dezember 2008

Wenn Bürger schreiben

Wenn das mal keine ungleichen Partner sind: CNN Chile und das chilenische Netzwerk Bürgerjournalismus sind eine "strategische Allianz" eingegangen, von der beide Medien profitieren sollen. "Netzwerk Bürgerjournalismus" ist ein wenig eingedeutscht, es müsste eigentlich "Netz der Bürgerzeitungen" (Red de Diarios Ciudadanos) heißen, aber das klingt so altbacken.

Dabei handelt es sich um ein faszinierendes Unterfangen, das in Lateinamerika, aber auch in Europa seinesgleichen sucht. Was vor drei Jahren mit dem Morrocotudo, einem diario ciudadano in Chiles nördlichster Stadt Arica begann, umfasst inzwischen mittlerweile zehn Webauftritte in verschiedenen Regionen des Landes. Die Bürgerzeitungen sind nämlich alle virtuell, quasi Kollektiv-Blogs mit redaktioneller Betreuung. Vergleichbar in Deutschland wäre vielleicht der Hauptststadtblog, der freilich sehr viel subjektiver daherkommt.

Bezeichnend für die chilenischen Online-Bürgerzeitungen ist auch, dass die allermeisten in der Provinz entstehen - vielleicht eine Reaktion auf das verbreitete Gefühl, von den "großen" Medien nicht wahrgenommen zu werden, die thematisch immer um die Hauptstadt kreisen, aber auch der Versuch, den verschnarchten Regionalzeitungen etwas in Eigeninitiative entgegenzusetzen. Und offenbar haben viele Bürger Spaß daran, ein wenig Lokaljournalismus zu betreiben und die Themen, die sie anderswo vermissen, selbst aufs Tapet zu heben.

Und was steht drin? An einem ganz normalen Tag berichtet der Repuertero, das diario ciudadano für Puerto Montt und die Llanquihue-Provinz von Gehwegen, die während des Kommunalwahlkampfs schnell, aber nicht behindertengerecht saniert wurden, vom Tag der offenen Tür in einem Jugendkulturzentrum, von einem Treffen der Opfer des Vulkanausbruchs von Chaitén und von einer Kreditlinie des Bauministeriums, die den Erwerb von Wohneigentum fördern soll. Nichts Weltbewegendes, aber Themen, die die Leute vor Ort etwas angehen. Entsprechend fleißig nutzen diese die Kommentarfunktion.

Weil die Webseiten dennoch professionell gemanagt werden, kosten sie auch Geld. Eine Menge lässt sich über Werbung refinanzieren, das Startkapital stellte die von Fernando Flores gegründete Stiftung Fundación Mercator zur Verfügung, die sich die Verbreitung digitaler Kultur zur Aufgabe gemacht hat. Flores, heute unabhängiger Senator, war einer der jüngsten Minister Allendes, in den Anfangszeit der Diktatur jahrelang inhaftiert und später in Kalifornien exiliert.

Die Kooperation mit CNN Chile, einem TV-Sender, der in diesen Tagen startet, sieht offenbar wie folgt aus: Der Medienriese stellt den Medienzwergen nationale und internationale Nachrichten (bzw. "Contents") zur Verfügung und darf im Gegenzug auf das Material zurückgreifen, das die schreibenden, fotografierenden und filmenden Bürger bienenfleißig zusammentragen. Man ahnt: CNN interessiert sich nicht für, sagen wir, Relexionen über den neuen Bebauungsplan in einer chilenischen Provinzstadt, dafür aber für exklusiv nutzbares Videomaterial, wenn mal wieder irgendwo etwas in die Luft fliegt, absäuft oder sonstwie Schaden nimmt. Wenn's der guten Sache dient.

Donnerstag, 4. Dezember 2008

Auswüchse

Zu den Eigenschaften der eilig hochgezogenen Fertighausviertel, mit denen Chiles Städte in die Landschaft hineinwachsen, gehört eine gewisse Uniformität. Zwar baut jede Firma ein etwas anderes Modell, aber substanzielle Variationen sind nicht zu erwarten. Allerdings ist so ein Viertel nach zehn oder gar zwanzig Jahren kaum wiederzuerkennen. Dafür sorgt der verbreite Wunsch, das - meist käuflich erworbene - Häuschen entsprechend dem real oder gefühlt gestiegenen Status zu vergrößern, aber auch die mehr als tolerante Praxis in Sachen Bau­ge­neh­mi­gungen. Auch in Valle Volcanes wird fleißig aus-, an- und umgebaut:

Hier hat sich jemand richtig Mühe gegeben:

Mittwoch, 3. Dezember 2008

Feliz día, secretaria

Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, hat es in Chile Tradition, allen möglichen Be­rufs­gruppen (genauer: den dienenden) einen eigenen Tag im Kalender zu wid­men. Das Unglaubliche daran: Die Leute nehmen das ernst. Am gestrigen 3. De­zem­ber etwa beging man den "Tag der Sekretärin", und während unseres kurzen Aufenthalts im Zahnarzt-Wartezimmer wurde die Dame am Empfang der Ge­mein­schaftspraxis tatsächlich mehrmals aufs Herzlichs­te ge­herzt. Wäre der­artiges in deut­schen Vorzimmern vorstellbar?

Dienstag, 2. Dezember 2008

Venusbedeckung


Gestern konnte man auch am südlichen Abendhimmel ein eher seltenes Schauspiel erleben: Venus und Jupiter (die sich auch sonst selten nahe kommen) bildeten zusammen mit dem Mond ein hübsches Dreieck (zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken). Das, was Astronomen als Höhepunkt der Begegnung dieser doch sehr unterschiedlichen Himmelskörper betrachteten, die sogenannte "Ve­nus­be­deckung" durch den Mond, habe ich dann aber verschlafen.

Montag, 1. Dezember 2008

Headbangen am Hafen

"Death Metal ist eine Variante des Metal, deren typische Merkmale sehr tief gestimmte Instrumente und Growls, oftmals auch Doublebass-Schlagzeugspiel und extrem schnelle Blastbeats sind", lehrt uns Wikipedia in einem recht ausführlichen Artikel über das musikalische Subgenre.

Ich für meine Person war noch nie auf einem Metal-Konzert gewesen, schon gar nicht auf einem Death-Metal-Konzert. Hier in Puerto Montt habe ich das nachgeholt, ich wollte einmal sehen, wo die ganzen schwarz gekleideten, langhaarigen Jugendlichen herkommen. In dem speicherartigen Gebäude in Hafennähe, wo die Band, an deren Namen ich mich nicht erinnere, auftrat, waren sie tatsächlich alle zum Headbangen* versammelt.

Die Recherche zum Thema "Metal" habe ich nach einer Stunde wieder eingestellt.



*Die englischsprachige Wikipedia führt übrigens nicht weniger als 17 Formen des Headbangings auf, vom half-circle über die windmill bis hin zum gallop.

Sonntag, 30. November 2008

Der Eine-Milliarde-Peso-Mann

Am Ende hat die Teletón noch mehr Spenden eingenommen als veranschlagt - natürlich. Die Übererfüllung des ehrgeizigen Spendenziels gehört zum Spektakel, nur einmal in dreißig Jahren hat es nicht geklappt.

Neben unzähligen anderen Vertretern der farándula (in etwa das, was man auf deutsch als "Promi-Szene" bezeichnen müsste) erschien auch ein Mann auf der Bühne im voll besetzten Estadio Nacional, dessen Erscheinungsbild sich krass vom durchschnittlichen Chilenen, aber ebenso vom distinguierten Auftreten der Reichen und Einflussreichen abhebt. Reich ist Leonardo Farkas auch, aber der 41-jährige Unternehmer trägt auf dem Kopf eine blondgelockte Fußballermähne spazieren (ricitos de oro, "Goldlöckchen", nennt ihn die Regenbogenpresse), bindet sich rosa Krawatten um den Hals und dicke Uhren ums Handgelenk. Dieser Mann nun spendete den bislang höchsten Einzelbetrag bei einer Teletón: eine Milliarde Pesos, ungefähr 1,2 Millionen Euro.



Farkas ist ein bizarrer Paradiesvogel, ein Mann, dessen politische Einstellung niemand genau kennt, der aber erwägt, bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr anzutreten, und der als candidato 2.0 auf Facebook bereits 150.000 Unterstützer zählt. Vor zwei Jahren kannte ihn noch niemand.

Farkas stammt aus einer Familie mit ungarisch-jüdischen Wurzeln, wurde im Norden Chiles geboren, wuchs in Santiago auf und studierte Betriebswirtschaft, ging aber in den Achtzigern nach Las Vegas, wo er als Show-­Mu­siker reüssierte:



Zu Beginn des neuen Jahrtausends kehrte er nach Chile zurück, um die Geschäfte seines verstorbenen Vaters zu übernehmen, in erster Linie das Berg­bau­unternehmen Minera Santa Fe, das bei Copiapó Eisenerz fördert. Wie es scheint, mit einigem Erfolg, denn Farkas hat 365 Tage im Jahr die Spendierhosen an. Der "Unternehmer und Philanthrop" (so die Webseite seines Unternehmens) ist berühmt für die anständigen Löhne, die er zahlt, aber auch seine opulenten Trinkgelder und Geldgeschenke auf offener Straße. Aus der Sicht vieler Chilenen ist er damit der "gute Unternehmer" oder der "gute Reiche", im Gegensatz etwa zu Sebastián Piñera, dem aussichtsreichen Kandidaten
der rechten Opposition, der fraglos noch mehr Geld hat, es aber auch besser zu­sam­men­hält.

Auf dem Flughafen von Santiago gab es vor kurzem eine Rangelei, weil Farkas bei seiner Ankunft aus dem Ausland willkürlich Geldscheine in der Menge verteilte. Offenbar möchte der Mann geliebt werden, und mit seiner Teletón-Aktion ist er auf dem richtigen Weg. Se siente, se siente, Farkas presidente, soll das Stadion unisono gebrüllt haben: "Farkas for president" auf chilenisch. Die Milliarde, die ihm nicht sonderlich weh tun dürfte, war also schon mal gut investiert.

Donnerstag, 27. November 2008

Sie wollen Geld


Tu Gutes und rede darüber? Tu Gutes und mach daraus eine gigantische Show! Dieses Wochenende ist Teletón in Chile.


Seit Wochen ist das Land in Aufruhr. Seit Wochen sammeln Familien, Schulklassen, Firmenbelegschaften, Fußballvereine Geld für das größte Benefizereignis des Jahres. Am Samstag werden all ihre Beiträge mit großem Brimborium addiert, zusammen mit Großspenden von Unternehmen und Mäzenen, Opposition und Regierung, vor allem aber den Kleinstspenden hunderttausender Chilenen, die ihre Pesos in eine der aus diesem Anlass 24 Stunden geöffneten Filialen der Banco de Chile tragen. Auch B. hat im Rahmen einer schulinternen Sammelaktion 1.000 Pesos in den großen Topf der guten Tat getan.


Die Teletón Chile gibt es seit 1978, ins Leben gerufen hat sie der TV-Showman Mario Kreutzberger, der als "Don Francisco" nicht nur jedem Chilenen, sondern den meisten Lateinamerikanern ein Begriff ist. Die Idee stammt freilich aus den USA, erfunden hat den Spenden-Marathon der Comedian Jerry Lewis. In Chile ging es am Anfang nur darum, die in finanzielle Nöte geratene Gesellschaft zur Versorgung körperbehinderter Kinder zu retten. Nach dem riesigen Erfolg der ersten Jahre beschloss man, die Teletón alljährlich durchzuführen, mit immer größerem Show-Aufwand und immer höheren Spendenzielen. Dieses Mal geht es darum, die Summe von exakt 13.255.231.970 chilenischen Pesos zu toppen – das entspricht etwa 15,5 Millionen Euro.


Das Geld fließt in die Teletón-Stiftung, die damit bislang 10 Reha-Zentren für körperbehinderte Kinder betreibt. Deren Konzept ist vorbildlich: Betreut wird grundsätzlich jedes Kind, das Bedarf hat, einkommensschwache Familien sind von Zuzahlungen ausgenommen. Die Kinder werden ambulant therapiert, unter Einbeziehung von Eltern und Geschwistern. Die Zentren bemühen sich außerdem darum, "ihren" Kindern den Unterricht an der Regelschule zu ermöglichen, was politisch erwünscht ist, in der Praxis aber oft an den Widerständen des Schulpersonals scheitert.


Ein weiterer Verdienst des alljährlichen Teletón-Trubels ist es, Behinderte in der Gesellschaft sichtbar und solidarische Hilfe selbstverständlich zu machen. Angesichts dessen kann man locker über die üblichen Manipulationsstrategien hinwegsehen – die allüberall plakatierten Kindergesichter, die immer dankbar lächeln, die süßlichen TV-Spots, das Gesülze von "Don Francisco".


Eine tolle Sache also, diese 27 horas de amor. Kann man aber auch anders sehen.


"Ich persönlich", schreibt mir ein Freund aus Santiago, "halte die Teletón für eine riesige Image-Waschanlage, von der alle profitieren: Politiker, Unternehmer und Unternehmen, Marken, die Fernsehfuzzis usw. Ein exzellentes Geschäft, das Mario Kreutzberger auch dazu dient, seine Machtposition in den Medien zu verteidigen - genauso wie das Wirtschaftssystem, das uns die Diktatur beschert hat. Wie viele andere dachte ich, dass dieses als Solidaritätskampagne verkleidete Festival der Eitelkeiten mit der Rückkehr zur Demokratie ein Ende hätte, und dass der Staat die Finanzierung der Stiftung übernehmen würde (wie es sich gehört), aber dafür war das Geschäft eben zu einträglich."


Ein Kritikpunkt, den viele teilen: Die "Partnerunternehmen" machen mit der guten Sache ein gutes Geschäft. Konkret sieht das so aus: Dreißig Unternehmen vom Speiseölhersteller bis zur Fluglinie werben auf ihren Produkten für die Teletón – und die Teletón wirbt für sie. Weil die Firmen sich verpflichten, einen gewichtigen Betrag an das Hilfswerk zu spenden, sorgen die Kunden dafür, dass die entsprechenden Produkte verstärkt konsumiert werden. Das funktioniert - nur wie viel Mehreinnahmen es tatsächlich in die Firmenkassen spült, erfährt man nicht. Aber man ahnt, welch unschätzbaren Wert es etwa für Pepsi besitzt, im Coca-Cola-Land Chile wochenlang das Teletón-Logo auf den Schraubverschluss drucken zu dürfen.


Ausgerechnet der Bürgermeister von Las Condes, einem der reichsten Stadtbezirke von Santiago, hat sich vor zwei Jahren mit Kreutzberger und seiner Teletón angelegt – was in Chile etwa so wirkt, als würde man in Indien eine Kuh auf offener Straße schlachen. Francisco de la Maza hatte es nicht mehr hinnehmen wollen, dass die Teletón-Sponsoren den öffentlichen Raum wochenlang kostenlos mit ihren Logos zupflastern. Er wollte dafür Gebühren kassieren und diese anschließend ebenfalls für den guten Zweck stiften. Das gab Ärger mit "Don Francisco" und überhaupt viel böses Blut.


Wahrscheinlich ist die pragmatische Sichtweise einer anderen Freundin aus Santiago die gesündeste: "Dass viele Unternehmen von der Teletón profitieren, ist für mich das kleinere Übel. Denn auf der anderen Seite stehen tausende Kinder, die kostenlos versorgt werden." So ähnlich argumentierte im Jahr 2002 auch Jorge González von den Prisioneros, die auf der Abschlussveranstaltung im Nationalstadion auftraten.


"Ist es nicht toll", fragte González mit leichtem Spott, "dass eine Sache sich in eine ganz andere verwandeln kann? Wir, die Künstler, pflegen hier unser Ego, und am Ende springt dabei eine Hilfe für die Kinder heraus. Und die Habgier und der Geschäftssinn der Unternehmen, die die Preise anheben, von Steuern befreit werden, Extra-Werbung kriegen, kommen den Kindern auch zugute. Obwohl es die breite Masse ist, die am Ende dafür sorgt, dass das Ziel erreicht wird." Dann spielten die Prisioneros ihren Klassiker Quieren dinero und bauten, sehr zum Missfallen der Organisatoren, auch noch ein paar Seitenhiebe gegen die reichsten Männer Chiles und die damals anrüchig gewordenen krummen Geschäfte des Pinochet-Clans ein.



Dienstag, 25. November 2008

Sonnenfahrt



Hier der Beweis, dass es auch in Puerto Montt nicht immer regnet (vgl. das Video vom Juni).

Deutsch II: Enttäuschungen

Nicht nur der Rechtschreibkönig war da, auch der Fußballkaiser: Nach Bastian Sick schaute Franz Beckenbauer kurz mal rein - um die Fußball-WM zu eröffnen, aber auch um für Deutschland und die deutsche Sprache zu werben. In einer Schule, an der das Fach Deutsch unterrichtet wird, enthüllte er gemeinsam mit dem deutschen Botschafter eine Plakette der Initiative "Schulen: Partner der Zukunft". Ziel der sogenannten PASCH-Initiative ist ein weltweites Netzwerk von Schulen, die sich für die Vermittlung deutscher Sprache und Kultur einsetzen.

Die Schule, an der S. unterrichtet, gehört schon dazu, auch wenn sie keine deutsche Auslandsschule im engeren Sinne ist. Dazu bräuchte sie einen deutschen Schulleiter und beamtete Lehrer aus Deutschland, im Idealfall gäbe es sogar einen deutschsprachigen Unterrichtszweig. Aber solche Aus­lands­schulen gibt es in Chile nur noch vier, die mit Abstand größte und am besten ausgestattete ist die Deutsche Schule Santiago, an der man ein vollwertiges Abitur ablegen kann. In der Provinz, wohin sich heutzutage eher wenige deutsche Familien dauerhaft verirren, blickt man mit Neid auf so viel Luxus.

Die meisten der rund 25 Schulen mit Schwerpunkt Deutsch befinden sich in Südchile, rund um Valdivia, Osorno und den Llanquihue-See, wo sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts viele Deutsche mit freundlicher Erlaubnis des chilenischen Staates ansiedelten. Deren Nachfahren tragen weiterhin mit Stolz einen deutschen Nachnamen, klüngeln in "Deutschen Vereinen" und halten den deutschen Pass in Ehren, so sie noch einen besitzen. Mit der Sprache haben es die meisten nicht mehr so. Das macht sich vor allem an den Schulen bemerkbar, deren einst üppige Ausstattung mit deutschen Lehrkräften zudem in den vergangenen Jahren drastisch zusammengestrichen wurde.


An S.' Schule ist es so: Die meisten Eltern melden ihre Kinder hier an, weil die Abgänger dieser Einrichtung seit Jahren hervorragende Ergebnisse bei der Hochschul-Zulassungsprüfung PSU erzielen. Das lassen sich die Familien, ob mit oder ohne Deutsch-Hintergrund, etwas kosten, und die Sprache nimmt man eben in Kauf. So richtig interessiert ist kaum ein Schüler an diesem kehligen Idiom, und das Niveau von Zwölftklässlern, die seit Kindergartentagen dieselbe Schule besuchen und praktisch täglich Deutschunterricht bekommen, ist in den meisten Fällen schlicht erbärmlich.

Besondere Bekümmernis bereitet vielen Lehrern die Tatsache, dass ausgerechnet die deutsche Literatur im Lehrplan gar nicht mehr vorkommt. Zwar wirbt die Schul-Website damit, dass Deutsch die Sprache Goethes, Kafkas und Nietzsches war, aber im Hinblick auf die Unterrichtsinhalte ist das Augenwischerei. Das Deutsche Sprachdiplom, mit dem sich die Schüler für das Studium an einer deutschen Uni qualifizieren können, hebt nämlich auf Alltagssprache bzw. das Verständnis von Texten mit Gebrauchswert ab. Wollte ein Lehrer Grass oder Grünbein lesen lassen, müsste er dies zusätzlich anbieten – aber dazu fehlt allein schon die Zeit. Überhaupt haben nur wenige Schüler eine Affinität zu den Geis­tes­wissenschaften: Wer das "Deutsche Institut" besucht, will später Geld verdienen (oder die Eltern wollen es), als Arzt oder Betriebswirt, Ingenieur oder Rechtsanwalt.

"Von all meinen Schüler haben vielleicht eine Handvoll echtes Interesse an Land und Sprache", sagt S., "die spitzen auch mal die Ohren, wenn ich etwas Aktuelles über die deutsche Gesellschaft erzähle. Von den anderen kommt dann gerne mal der Spruch: Wir sind hier aber in Chile, Frau!"

Gegen die "Frau" kämpfen S. und ihre Kolleginnen wie gegen Windmühlenflügel. Aber auf Spanisch redet man eine Lehrerin einfach mit señora an - wieso sollte das nicht auf Deutsch ebenso gut funktionieren?

Samstag, 22. November 2008

Deutsch I: Verwirrungen

Vor ein paar Tagen war Bastian Sick in Santiago. Der Nationaloberlehrer für das Fach Deutsch tourt gerade auf Einladung des Goethe-Instituts durch Südamerika und wurde in den Räumen des Deutsch-Chilenischen Bundes von 200 Fans be­geistert empfangen. Sick erzählte ihnen etwas über das natürliche Geschlecht von Produktnamen, falsche Apostrophe und die Rechtschreibreform.


Verweilte Sick ein wenig länger in der deutschen bzw. deutschstämmigen Ge­mein­de Chiles, er bekäme es wohl bald mit der Angst zu tun. Das Kulturgut deut­sche Sprache, das er so schmunzelnd verteidigt, hier kommt es auf den Hund – und dazu bedarf es nicht einmal einer generationenlangen Entfremdung von der Heimat, ein paar Jahre, ja Monate reichen locker.


Kannst du mir das Geld heute schon auf mein Konto transferieren?“, frage ich S. und merke sofort: Das stimmt so nicht. Dabei ist „transferieren“ statt „überweisen“ ein eher lässlicher Feh­ler oder, wenn man's ganz genau nimmt, überhaupt kein Fehler. Es entspricht nur eben nicht dem Sprachgebrauch. Soll heißen: Auch bei uns schleichen sich schon auf leisen Pfoten die Hispanismen ein. Manchmal sind die Unterschiede aber auch zu subtil.


Die städtischen Arterien“ schreibe ich und meine „Verkehrsadern“. Aber in spanischen Artikeln ist immer von arterias urbanas die Rede, und Blutgefäße sind das ja auch. Ein wichtiges soziales Ereignis ist in Wirklichkeit ein „ge­sell­schaftliches Ereignis“ und das mangelhafte Handy-Signal entpuppt sich nach längerem Grübeln als schlechter Empfang.


Je länger die Leute hier sind, desto stärker fängt es an zu bröckeln. Das Spanische macht sich breit im Deutschen, sei es als unpassendes Fremdwort, als falsche Übersetzung oder als schrulliger Neologismus. Als erstes geben, wie mir scheint, die Verben den Widerstand auf, dann folgen die Substantive, dann die Adjektive. Der restliche Kleinkram – Pronomen, Konjunktionen und sonstige Partikel – ist am zähesten, auch wenn manche Auswanderungsveteranen jeden zweiten Satz mit einem bueno einleiten.


Noch ein paar authentische Beispiele? „Früher gab's bei Jumbo gutes deutsches Vollkornbrot. Aber dann haben sie die Masse verändert.“ (masa = Teig) „Es war wunderschön, ich war richtig emotioniert.“ (emocionado = gerührt) Oder: „Sie können ruhig mit dem Original bleiben, ich bleibe mit der Kopie.“ (quedarse con = behalten) Undsoweiter.


Richtig drollig wird es, wenn ein gut gehendes Unternehmen mit deutschem Migrationshintergrund wie die Wurstfabrik Cecinas Llanquihue im deutsch­sprachigen Cóndor eine Anzeige wie diese schaltet:



Der Clou an der Sache: Das Wort „Kompromiss“ wird zwar falsch verwendet (ob es in der Sache zutrifft oder nicht), denn gemeint ist „Verpflichtung“ (spanisch: compromiso). Trotzdem gäbe es für die Gebrüder Mödinger, die den besten Schinken von Chile machen, gar keinen Grund, den Anzeigentext zu korrigieren. Denn die Leser verstehen genau, was gemeint ist, und würden vermutlich den­selben Fehler machen. In solchen Fällen wäre selbst ein Bastian Sick impotent, wil sagen: machtlos.