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Montag, 1. März 2010

Vermisst und verwirrt

Das idyllische Bild ganz oben habe ich Ende Dezember bei Curanipe aufgenommen. Curanipe liegt in der Maule-Región und wenige Kilometer vom Epizentrum des großen Bebens entfernt. Die Stärke der Erdstöße an dieser Stelle (8,8) mag man sich gar nicht vorstellen, aber schlimmer als die Erschütterungen waren in Curanipe und den benachbarten Küstenorten die Flutwellen, die eine Viertelstunde später den Uferstreifen verwüsteten. Viele Menschen haben offenbar direkt nach dem Beben das einzig Richtige getan und sind landeinwärts bzw. bergauf geflüchtet. Alle schafften das leider nicht - oder hielten es in Ermangelung einer Warnung nicht für nötig.

Ob die zuständige Einheit der Marine (der Servicio Hidrográfico y Oceanográfico de la Armada de Chile, Kürzel: SHOA) tatsächlich einen folgenschweren Irrtum beging und direkt nach dem Beben die Gefahr eines Tsunamis ausschloss, oder ob die Regierung eine entsprechende Warnung nicht weiterverbreitet hat, ist derzeit heiß umstritten. Freilich stellt sich die Frage, ob eine offizielle Auforderung, aus der Gefahrenzone zu flüchten, die Menschen überhaupt bzw. rechtzeitig erreicht hätte. Bislang werden 50 Tote aus der Gegend um Curanipe gemeldet - in Wirklichkeit dürften es noch viel mehr sein.

Wir wohnten im Dezember in einer von einem deutsch-argentinischen Paar betriebenen Ferienanlage, wunderschön etwa 15 Meter oberhalb des menschenleeren Strandes gelegen. Diese 15 Meter könnten den beiden und etwaigen Gästen das Leben gerettet haben, aber wir wissen es nicht. Die chilenische Google-Seite hat einen Personenfinder eingerichtet, wo jeder Informationen über vermisste Menschen hinterlegen kann. Leider finden sich dort bis jetzt nur Suchanzeigen.

Derweil treibt noch eine andere Debatte die Chilenen um: Wie kann es sein, dass so viele Menschen die Naturkatastrophe ausnutzen, um an sich zu reißen, was nicht niet- und nagelfest ist? Wenn man den Fernsehbildern und Reporterberichten Glauben schenken darf, geht es ja nicht nur um Plünderung und Brandstiftung in einzelnen großen Supermärkten, auch längst nicht nur um die Aneignung von Lebensmitteln. Ausgeweidet werden auch zerstörte Häuser und Autos, selbst in den kleineren Orten. In Concepción und anderswo glauben Einwohner sich mit bewaffneten Bürgerwehren vor marodierenden Banden schützen zu müssen. Die Angst vor den Anderen überwiegt mancherorts die Angst vor der Natur.

Aber kann man den Fernsehbildern trauen? Wer mit den Mechanismen der Berichterstattung ein wenig vertraut ist, ertappt sich ständig dabei, erst diese Bilder und dann wieder die eigene Skepsis in Frage zu stellen. Sicher, da wird immer das eine Haus in Trümmern gezeigt, neben dem, unsichtbar für den Zuschauer, hundert andere stehen, die weit weniger in Mitleidenschaft gezogen wurden. Da hält der Fotograf die Kamera ein paar Zentimeter über den Boden, und schon sieht der kleine Riss im Asphalt aus wie eine abgrundtiefe Erdspalte. Vielleicht handelt es sich auch bei den plündernden Horden nur um ein dreckiges Dutzend, und zwei Straßen weiter filmt niemand, wie sich die Menschen beim Überleben helfen? Wer weiß. Die Luftaufnahmen aus den vom Tsunami betroffenen Küstenorten wie Curanipe sprechen allerdings eine eigene Sprache - die lassen sich auch durch dramatische Hintergrundmusik kaum noch schlimmer machen.

Hinter vorgehaltener Hand (bisweilen auch ganz explizit) wird derweil analysiert, was das Desaster für die scheidende und für die nachfolgende Regierung bedeutet. Man könnte es, ein wenig kalt und zynisch, so ausdrücken: In den ersten Tagen hat sich Sebastián Piñera möglicherweise geärgert, dass das Megabeben - wenn es denn schon sein musste - nicht in die ersten Monate seiner Amtszeit fiel. So konnte die Concertación in den letzten Tagen ihrer Existenz noch einmal beweisen, was sie für das Land zu tun imstande war.

Inzwischen hat sich das Blatt allerdings gewendet: Die Kritik an der amtierenden Regierung, zu spät und nicht konsequent genug zu handeln, wird immer stärker. Ob sie berechtigt ist, steht dahin, schließlich sind in solchen Notsituationen alle gleichzeitig der Meinung, gerade ihnen müsse zuallererst geholfen werden. Aber wenn Michelle Bachelet in dieser und der kommenden Woche nicht noch Handlungsfähigkeit demonstriert, wird das Erdbeben ihrem Ansehen und dem der gesamten 20 Regierungsjahre der Concertación sehr schaden - während Piñera sich als Mann des Wiederaufbaus in Szene setzen und gleichzeitig viele seiner vollmundigen Wahlversprechen zurückschrauben kann. Die Begeisterung, mit der viele in Concepción die einrückenden Soldaten begrüßten, die dort für Ruhe und Ordnung sorgen sollen, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass Piñeras angekündigte Politik der harten Hand auf sehr fruchtbaren Boden fallen wird.

Sonntag, 3. Januar 2010

Entspannt knallen lassen


Ich plädiere hiermit für die Verlegung der deutschen Silvesterfeier in die Som­mer­mo­na­te. Außerdem muss schnellstmöglich der Raketenverkauf un­ter­bun­den werden. Wer erlebt hat, wie man das neue Jahr in Viña del Mar be­grüßt, kann zu keinem anderen Schluss kommen.

Gut, Viña ist immer noch ein Badeort für Besserverdienende und nur bedingt repräsentativ für das chilenische año nuevo. Aber grundsätzlich wird klar: Ein professionell abgebranntes Feuerwerk in einer lauen Nacht zu betrachten, ist deutlich besser, als mit Aldi-Raketen die Winterluft zu vernebeln. Das Knallzeug, von Wunderkerzen und ähnlichem abgesehen, haben die chilenischen Behörden vor ein paar Jahren aus den Läden verbannt, weil sich schwere Unfälle häuften. Ei­ne Revolte gab es deshalb nicht.

Um aus Silvester ein so friedlich-ausgelassenes Fest zu machen, wie es an der Bucht von Valparaíso gefeiert wird, müsste man den Deutschen freilich auch noch das massenhafte Biersaufen, Grölen und S-Bahn-Vollkotzen verbieten. In Chile, wo öffentlicher Alkoholkonsum grundsätzlich untersagt ist, wird gerade mal ein Fläschchen Sekt in der Silvesternacht toleriert. Das trinken viele dann am Strand oder auf der Uferpromenade, wo sie einen Campingtisch aufgebaut und mit Kon­fet­ti verziert haben. Als das pyrotechnische Spektakel vorbei ist, fließt die rie­si­ge Menschenmasse langsam, aber entspannt aus der Feierzone, es gibt kein Ge­brüll, keine bösen Worte, kaum Scherben. Ein Traum.

Dienstag, 8. Dezember 2009

Private Landschaft

Wer Chiles Landschaften für sich erschließen will, hat zwei ernstzunehmende Gegner: das Privateigentum und die Wildnis.

Die Sache mit dem Eigentum ist einfach: Es gibt in Chile zwar ein Gesetz, das den öffentlichen und kostenlosen Zugang zu allen (Meer-, See- und Fluss-) Stränden garantiert, aber leider kein vergleichbares für Wald und Flur. Wie kostbar die deutschen Wald- und Wegerechte sind, die den Wanderer in seinem Bewegungsdrang weitgehend unbehelligt lassen, wird einem hier bald klar, wenn die Idylle abseits der Straße mal wieder eingezäunt und unzugänglich ist: Privatbesitz, Betreten verboten. Das gilt für kultivierte wie für Brachflächen. Die Furcht vor illegalen Aneignungen spielt dabei in einem Land mit einer extremen Kluft zwischen Arm und Reich eine große Rolle.

Sicher, man kann den Eigentümer fragen, ob er den Durchgang gestattet. Man kann auch einfach durch den Stacheldraht schlüpfen. Mit Konsequenzen, evtl. in Form eines bissigen Hundes, muss man freilich rechnen. Umso lobenswerter sind deshalb öffentliche Initiativen wie der noch unter Präsident Ricardo Lagos ins Leben gerufene Sendero de Chile. Das Projekt, Chile auf seiner gesamten Länge durch einen allgemein zugänglichen Wanderweg zu erschließen, wurde zwar im Hinblick auf die Zweihundertjahrfeier der Republik im kommenden Jahr erdacht, wird aber wohl selbst hundert Jahre für seine Verwirklichung benötigen. Die Arbeitsgruppe der nationalen Tourismusbehörde, die mit dem "Sendero" betraut ist, muss mit wenig Mitteln den Ausbau in ausgewählten Regionen vorantreiben und dabei ständig mit Landbesitzern um die Erteilung von Durchgangsrechten kämpfen.

Und dann die Wildnis: Was jenseits des land- und forstwirtschaftlich genutzten Gebiets liegt, ist, zumindest im regenreichen Süden Chiles, von atemberaubender Undurchdringlichkeit. Dass es in den riesigen Nationalparks oft nur wenige Kilometer Wanderwege gibt, liegt an der mühevollen und langwierigen Arbeit, in der die Waldarbeiter mit Motorsägen Pfade ins Dickicht schneiden, Stege zimmern und hölzerne Treppenstufen in die matschigen Urwaldhänge hauen. Auch hier gilt: Vom Weg abweichen gibt's nicht, weil: geht nicht.


Sonntag, 22. November 2009

Wenn Männer Händchen halten

Nun hat er es doch getan: Sebastián Piñera, der Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat der rech­ten Opposition in Chile, zeigt für ein paar Se­kun­den in einem seiner TV-Spots ein schwules Paar. Einer der beiden Händ­chen hal­ten­den jungen Männer flüstert Piñera etwas ins Ohr, so wie es im sel­ben Clip weitere Repräsentanten ge­sell­schaftlicher Randgruppen tun - eine Mapuche, ein Kind mit Down-Syndrom, ein alter Mann, eine Seh­be­hin­der­te usw. usf. Woraufhin sich der Kandidat (Achtung, Me­ta­pher!) zur de­ren Stimme macht. Im Fall der beiden gays sagt er sinn­ge­mäß: "Unsere Mitmenschen akzeptieren uns schon - jetzt wollen wir, dass uns auch der Staat respektiert."


Drei Männer, zwei Schwule, ein Kandidat (um den Clip zu sehen: Bild anklicken)


Wie soll man diese Geste einschätzen? Einerseits ist es gerade für ei­nen rechten Politiker in Chile ein Wagnis, Schwule als das zu zeigen, was sie sind: ganz normale Menschen. So richtig akzeptiert werden sie nämlich noch lange nicht, und schon gar nicht von den vielen Hardlinern in den eigenen Reihen. Als der Inhalt des Spots vor ein paar Wochen durchgesickert war, hatten Politiker beider rechten Parteien (der ul­tra­ka­tholischen UDI und der eher traditionell-oligarchisch geprägten RN) hef­tig protestiert und zum Teil mit ihrem Ausstieg aus der Piñera-Kampagne gedroht. So betrachtet hat der Kandidat Mut bewiesen. Umgekehrt wird eine Mogelpackung draus: Mag Piñera sich noch so tolerant zeigen - am Ende wird er, wenn er denn regiert, auf Minister und Abgeordnete an­ge­wie­sen sein, denen alles Gleichgeschlechtliche ein Gräuel ist. Was sol­len sich Homosexuelle von einer solchen Regierung versprechen?

Daran, dass Homosexualität irgendwie auch zum Leben gehört, wird sich die Ultrarechte aber gewöhnen müssen, und der Piñera-Spot ist vielleicht ein kleiner Schritt auf dem Weg dahin. Wie auch zu erfahren war, handelt es sich bei einem der beiden schwulen Männer um Luis Larraín Stieb, den Sohn von Luis Larraín Arroyo, Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler an der Universidad Católica und stell­ver­tre­ten­der Leiter des UDI-Thinktanks Libertad y Desarrollo. Das vermeintliche Pro­b­lem tritt also durchaus in den eigenen Reihen auf, und das ist bekanntermaßen auch gut so.

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Meine Zeit mit Elisa


Uff. Jetzt ist er doch tot, mausetot. Mit Schlafmittel betäubt und dann ein Schuss in den offenen Mund. Dabei wollte Bruno Alberti sich doch zusammen mit Consuelo, seiner Frau, der Polizei stellen. Dumm nur, dass Consuelo ihn im Verdacht hatte, seine Haut als Kronzeuge gegen sie retten zu wollen. Schließlich hatte sie ihre Nichte Elisa erschossen und nicht Bruno, der erst eine Affäre mit der Min­der­jäh­ri­gen anfing und sie dann wochenlang in einem abgelegenen Som­mer­haus gefangen hielt. Gestorben wäre Alberti in dieser Nacht aber allemal, denn sein rachsüchtiger Schwager Raimundo, Elisas Vater, und Nicolás, Raimundos Freund und Geschäftspartner, wollten ihn ebenfalls töten. Letzterer, weil er in Bruno den Mörder seiner Freundin Juanita zu erkennen glaubte, derselben Juanita, mit der Raimundo kurz zuvor seine Frau Francisca betrogen hatte, die dafür eine heimliche Beziehung mit Camilo einging, dem Kriminalkommissar, der schließlich die sterbende Elisa fand.

Kompliziert? Ja, aber nur ein winziger Ausschnitt von "¿Dónde está Elisa?", meiner telenovela. Meiner novela! Als eine von S. Kolleginen im vergangenen Mai nach Deutschland zurückging, hinterließ sie uns ihren Fernseher. Kurz darauf begann mein heroischer Selbstversuch: eine telenovela von Anfang bis Ende durch­zu­ste­hen. Genau genommen habe ich den Anfang verpasst, aber das macht nichts, denn "¿Dónde está Elisa?" hatte bis jetzt um die hundert Folgen. Von Montag bis Donnerstag, pünktlich um 22 Uhr, gab es eine halbe Stunde Intrigen, Leidenschaft, Geheimnisse und Gewalt, zuzüglich Werbepausen. Und einen Plot, der sich, dem Genre entsprechend, wie ein riesiger Kaugummi in die Länge zog. Handlungsstränge, die auf falsche Fährten führten, im Nichts endeten, nach Wochen wieder aufgenomen wurden, Nebendarsteller, die plötzlich autauchten, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Die Frage, wo Elisa wohl sei, war nach der Hälfte schon beantwortet, aber nicht die Frage nach dem Täter und unendlich viele Fragen mehr.

Dass ich trotzdem durch­ge­hal­ten habe, hat mehrere Gründe. Zuallererst eine Por­tion Narzissmus: Wenn man als Ausländer zu verstehen gibt, dass man die derzeit beliebteste novela regelmäßig sieht, wenn man mit Detailwissen und Theorien über die weitere Entwicklung der Handlung aufwarten kann, schlägt einem Un­gläu­big­keit, aber auch Bewunderung entgegen. Vielleicht hat mancher mich auch für verrückt gehalten, aber das war es wert. Denn man kann die novela ja auch auf einer Metaebene als Spiegelbild der Gesellschaft lesen, in die man da eintaucht. Nicht als reales Spiegelbild, sondern als eines, das die kollektive Selbst­wahrnehmung, aber auch Mythen über die eigene Identität repräsentiert. Spä­tes­tens wenn man mit Chilenen die vergangenen Folgen, die Charaktere und die Glaubwürdigkeit der Story analysiert, ist ohne Belang, ob das Ding ein halbindustrielles Erzeugnis zur Schaffung eines erstklassigen Werbeumfelds ist. Sag mir, was du über "Elisa" denkst, und ich weiß schon eine ganze Menge über dich.

Und dann dieser Lindenstraßen-Effekt. "¿Dónde está Elisa?", eine Produktion des staatlichen Senders TVN mit preisgekröntem Drehbuchautor, begabten Schau­spie­lern und experimentierfreudigen Regisseuren, hat ein paar Themen in Um­lauf gebracht, über die man in Deutschland vielleicht lächeln würde - zu Un­recht, denn der erste schwule Kuss in einer deutschen TV-Produktion ist auch noch keine zwanzig Jahre alt. "Elisa" hat nun unter anderem das Verdienst, erstmals Schwule als ganz normale Menschen zu zeigen (auch wenn ihr Leben nur aus Problemen besteht, denn Ignacio, der Ehemann von Olivia, Raimundos Schwester, hat sich nie geoutet und musste sich ausgerechnet in Javier verlieben, Olivias Ex aus Studentenzeiten, der nach einem längeren Aufenthalt in New York als offener gay zurückgekehrt ist). Keine affektierten Tunten mit abgespreizten Fingern, die bislang das offizielle Abbild des gewöhnlichen Homosexuellen im Fernsehen waren, dafür ein Kuss in einer Schwulendisco an Heiligabend. Nicht übel.

Überhaupt kann man Hoffnung haben, dass das relativ neue Genre der telenovela nocturna, der anspruchsvolleren Schwester jener seichten Nachmittagsserien, die längst auch in ARD und ZDF Einzug gehalten haben, irgendwann die Plastikwelt der Schönen und Reichen verlässt, in der sie jetzt noch zuverlässig angesiedelt ist. Das wäre wirklich eine spannende Entwicklung - wenn sich die Chilenen allabendlich selbst zu Gesicht bekämen und nicht nur Menschen wie den "Vorsitzenden eines der bedeutendsten Konzerne des Landes" (die Figur Raimundo laut TVN). Für die novela, die "Elisa" nahtlos ablösen wird, gilt das nicht, es handelt sich um eine Vampirsaga, die im ländlichen Chile des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist. Darin geht es um - klar: Intrigen, Leidenschaft, Geheimnisse und Gewalt. Ich für meinen Teil schalte dann mal ab.

Samstag, 24. Oktober 2009

Feinste Unterschiede

Eigentlich unterscheiden wir uns überhaupt nicht voneinander. Trotz der gewaltigen Entfernung, trotz Sprache und Geschichte und aller weiteren kulturellen Nuancen, die wir nicht teilen, fällt es kaum einem Deutschen schwer, sich in Chile zurechtzufinden. Man isst hier weder Hunde noch Insekten, niemand muss sich das Gesicht verhüllen, und wer den Kopf schüttelt, meint tatsächlich "nein".

Trotzdem stößt man immer wieder mal auf kleinste Differenzen, die signalisieren: Hier tickt dieses Land ein bisschen anders, hier hat sich eine abweichende Kulturtechnik etabliert. Glücklicherweise besitzen diese Dinge nicht genügend Tiefgang, um die gegenseitige Toleranz ernsthaft auf die Probe zu stellen. Kleinere Reibungsverlsute sind dennoch nicht ausgeschlossen.

"Und ich hatte so einen Hunger", stöhnt S., als sie von einer Einladung zum Kuchen bei einer Kollegin zurückkommt. Dass das Gebäck, das dank teutonischer Einwanderung tatsächlich "Kuchen" heißt, selten so schmeckt wie daheim in Deutschland - geschenkt. Rätselhaft für unsereins ist dagegen die Sitte, Gäste eine gefühlte Ewigkeit mit Smalltalk hinzuhalten, obwohl die Kaffeetafel längst gedeckt im Nebenraum wartet. A propos gedeckt: Beim Frühstück oder am Nachmittag steht in Chile die Tasse vorne und der Teller hinten, also weiter weg vom Essenden (wenn statt Tassen Gläser gedeckt sind, etwa auf dem Mittagstisch, ist dagegen alles "normal"). Warum das so ist, konnte uns bislang noch niemand erklären. Vielleicht mögen Chilenen lieber Krümel im Tee als Tropfen auf dem Brötchen?

Auch auffällig bei gegenseitigen Besuchen ist nicht etwa die Unpünktlichkeit (eine Disziplin, in der viele Deutsche inzwischen locker mithalten können), sondern die Sache mit den Schuhen. In Deutschland gehört es mittlerweile fast zum guten Ton, sich gleich hinter der fremden Wohnungstür seiner Treter zu entledigen - oder das zumindest anzubieten. In Chile würde man freiwilliges Schuheausziehen unter der Rubrik "Grober Unfug" verbuchen. Weil Füße eben unangenehm riechen, wie man mir auf Nachfrage kategorisch erklärte. Deshalb traut sich auch niemand, auf einer Nachtfahrt im Überlandbus die Zehen frische Luft schnuppern zu lassen.

Besonders auffällig sind die kleinen Unterschiede im Straßenverkehr. Ein lediglich kurioses Detail: Wer langsamer fahren will als der Hintermann, deutet diesem mit dem Blinker an, er möge doch bitte überholen. Genau wie in Deutschland - nur blinkt man hier links und nicht rechts. Also: "Da sollst du an mir vorbeiziehen" und nicht "Ich bleib hier schön am Rand". Unangenehmer für den Zugewanderten ist die Tatsache, dass man in Chile das Reißverschlussverfahren nicht kennt. Und zwar im Wortsinn: Man kennt das Konzept einfach nicht, dem Verkehrsteilnehmer von der Nebenspur, die etwa an einer Baustelle endet, das Einfädeln zu ermöglichen. Wer zuerst kommt, fährt zuerst. Sollte es daran liegen, dass hohe Verkehrsaufkommen in Chile noch ein recht junges Phänomen sind? Vielleicht muss nur mal jemand den entsprechenden Begriff in Umlauf bringen.

Es gibt noch ein paar solcher Kleinigkeiten. Etwa die Art, mit den Fingern zu zählen. Hier fängt niemand bei "eins" mit dem Daumen an - es gibt die Variante "Vom kleinen Finger aufwärts", die gerne unter Zuhilfenahme der anderen Hand gebraucht wird, sowie eine zweite, komplexere, die mit dem Zeigefinger beginnt. Und (das geht dann doch schon in Richtung "Kopfschütteln") um jemanden heranzuwinken, schaufelt man sich nicht Luft ins Gesicht, sondern streckt die Hand aus, Innenseite nach unten, und macht mit den Fingern eine kratzende Bewegung.

Mir passierte letztens folgendes: Mein Freund Chany, der zurzeit in Santiago bei einem Institut arbeitet, das Methoden der Schul- und Berufsbildung evaluiert, hatte mich gebeten, stellvertretend für ihn auf einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrer in Puerto Montt eine schriftliche Umfrage zu machen. Eigentlich ging es nur darum, Fragebögen zu verteilen und wieder einzusammeln. Das tat ich auch - und verstand nicht, weshalb die Seminarleiterin, eine ältere Dame, so pikiert war. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht.

Nach eingehender Selbstprüfung und Rücksprache mit Santiago fand ich die Lösung. Es war so: Weil man mir den Fragebogen erst kurz vor dem vereinbarten Termin mailte und ich ihn außerdem in großer Zahl kopieren musste, war keine Zeit gewesen, je vier Blätter aneinanderzuheften. Deshalb hatte ich die in einem Konferenzraum versammelten Lehrer gebeten, die vier Stapel durch die Reihen gehen zu lassen und sich jeweils ein Blatt zu nehmen - eine Technik, die man in Deutschland spätestens seit der siebten Klasse beherrscht. Aber hier nicht: "Wir sind da sehr paternalistisch eingestellt", sagt eine chilenische Freundin, "wir erwarten, dass jemand durch den Saal geht und jedem genau das in die Hand drückt, was er braucht."

Deshalb hatte das Verteilen so lange gedauert, hatten manche Teilnehmer so verwirrt gewirkt, hatte ich die Seminarleiterin dabei beobachtet, wie sie, leise fluchend, Blätter austeilte und immer wieder fragte, wem noch dieses oder jenes fehle. Mein Verhalten dagegen war - aus ihrer Sicht - leicht unverschämt: Platzt in die Veranstaltung und lässt andere seine Zettel austeilen. Glücklicherweise beinhaltete der Arbeitsauftrag noch ein längeres mündliches Interview mit mehreren Lehrern, was auch hervorragend funktionierte. Wenn man drüber spricht, geht eben alles.

Samstag, 26. September 2009

Apathische Revolutionäre, abgründige Dienstmädchen

Schade. "Dawson - Isla 10", Miguel Littíns Film über das Konzentrationslager, das Pinochets Junta für hochrangige Politiker der Unidad Popular auf einer patagonischen Insel einrichtete, enttäuscht die Erwartungen. Und die waren hoch, denn noch gibt es nicht viele Filme, die die dramatischen Ereignisse rund um den Putsch von 1973 erzählen. Außerdem ist Littín so etwas wie der Altmeister des chilenischen Films und ein einsamer dazu - zwischen ihm und den vielen Jungfilmern, die heute dank einer vergleichsweise generösen Förderung ein Debüt nach dem anderen abliefern, klafft eine große, leere Lücke.

Leider ist Littín, was Erzähltechniken und Experimentierfreude angeht, auch irgendwo in den Siebzigern hängen geblieben. "Dawson - Isla 10", der auf dem autobiografischen Buch des ehemaligen Häftlings Sergio Bitar beruht, ist ein Film ohne jede Überraschung, eine Aneinanderreihung von Begebenheiten, die Bitar tagebuchartig aufgeschrieben hat, letztlich ein Kostümfilm, dessen Ende man schon vorher kennt. Langeweile im Kino ist da programmiert, auch wenn viele Chilenen es vielleicht als bewegend empfinden, wenn den großen Namen der Unidad Popular (wie José Tohá, Orlando Letelier, Clodomiro Almeyda) auf der Leinwand neues Leben eingehaucht wird.

Littín zeigt sorgfältig komponierte, am Originalort gedrehte Bilder, aber es gelingt ihm nicht im Geringsten, eine realistische Stimmung des Lagerlebens zu zeichnen. Da stecken fünfzig Männer in einer Häftlingsbaracke, die gerade eben noch leidenschaftlich Politik gemacht haben, die man gewaltsam aus einer der dramatischsten Phase der chilenischen Geschichte gerissen hat - aber sie schlurfen apathisch, ja autistisch herum, als verbrächten sie schon Jahre in der Isolation. Nur einmal gibt es Streit um irgendeine Lappalie, und plötzlich stehen sich Sozialisten, Kommunisten und Miristas hasserfüllt gegenüber und raufen wie die Schuljungen. Mit einem derart simplen Dreh werden schnell auch noch die ideologischen Verwerfungen innerhalb der verhinderten Revolutionäre abgehakt.

Absolut erfreulich und sehendswert ist dagegen "La Nana", ein Film von Sebastián Silva, der auf dem Sundance Festival 2009 den Großen Preis der Jury in der Kategorie "World Cinema Dramatic" erhielt. Eine vollkommen verdiente Auszeichnung, denn Silvas psycho- und soziologische Studie setzt neue Maßstäbe des Realismus im chilenischen Film, der traditionell zu Stilisierungen neigt. "La Nana" ("The Maid" auf englisch, obwohl die Bezeichung für die chilenischen Hausmädchen an das englische "Nanny" angelehnt ist) seziert den Alltag einer Hausangestellten, die seit mehr als zwanzig Jahren in einer Familie der chilenischen Upper-Class lebt. Die nana puertas adentro, das Dienstmädchen, das mit den Arbeitgebern im selben Haus wohnt, ist auch heute noch häufig in den besseren Vierteln Santiagos anzutreffen - auch wenn immer weniger Chileninnen und immer mehr Peruanerinnen diesen Job erledigen.

Eine Peruanerin wird dann auch zur Verstärkung ins Haus geholt, als Raquel, die die vier Kinder der Valdés' aufzieht, kocht, wäscht, saugt und den patrones morgens das Frühstück ans Bett bringt, gesundheitliche Probleme bekommt. Sie wird von Depressionen und Migränen geplagt, will aber auf keinen Fall ihre vermeintliche Position als zusätzliches Familienmitglied riskieren, denn ein eigenes Leben, das wird bald klar, hat sie längst nicht mehr. Hinter den alltäglichen Verrichtungen im Haushalt, die Silva minutiös abbildet, tut sich ein Abgrund auf, und das Festivalpublikum in den USA soll ständig damit gerechnet haben, dass die nana zum Pürierstab greift und ein tarantineskes Blutbad anrichtet. Genau das passiert aber nicht, der Film endet so unspektakulär wie anrührend.

Für die Chilenen wirkt dieser Blick auf ein sehr reales gesellschaftliches Phänomen bestürzend authentisch. Das kommt vielleicht auch daher, dass der 30-jährige Silva die "Nana" stark an seine eigene nana angelehnt hat. Auf alle Fälle ein extrem erhellender, aufklärerischer Film, von dessen Art Chile noch viele braucht.

Bilder: Dawson - Isla 10 und Sundance Festival 2009

Freitag, 18. September 2009

Rhythmisches Schlurfen in blauweißrot

Und wieder dieciocho. Vor dem Nationalfeiertag, der für viele Chilenen gleich eine ganze Woche dauert, wird überall blauweißrot geflaggt, in Fenstern und Gärten, an Läden, auf Hochhäusern. Die Kinder haben sich für die Schule verkleidet, J. mit manta und Strohhut vom letzten Jahr, B. mit nagelneuem huaso-Outfit. Sporen wollte er auch noch tragen, aber irgendwo muss Schluss sein. Im Kindergarten wurden auf dem Elektrogrill anticuchos gebraten, und S. musste in ihrer Schule einen nicht enden wollenden cueca-Wettbewerb überstehen.

A propos cueca - mir bot man einen Tanzkurs an, und ich lehnte nicht ab. Etwas chilenischeres als den halb gesprungenen, halb gestampften Balz-Tanz gibt es kaum, da kann es nicht schaden, sich ein wenig auszukennen. Für die Tanzstunden hatte man ein paar Freunde zusammengetrommelt, die sich unter Anleitung eines professionellen Folkloretänzers in einem Second-Hand-Modeladen trafen. Schon bei den ersten Schritten zwischen den Kleiderständern lernte ich: 1. cueca-Tanzen ist gar nicht so dröge, wie ich dachte, sondern - je nachdem, wie man es betreibt - recht sexy. 2. cueca-Tanzen ist so schwierig, weil zu dem anspruchsvollen, synkopierten Rhythmus eine Choregrafie gehört, die genauen Regeln folgt und exakt mit der Musik übereinstimmen muss. 3. Viele Chilenen sind beim cueca-Tanzen genauso unbeholfen wie unsereiner.

Nach ein paar Stunden ging das halbmond-, schleifen- und kreisförmige Schlurfen und Springen schon ganz gut. Nur das obligatorische Taschentuch zum Herumwedeln hatte ich jedesmal vergessen und musste mal mit einer Strickmütze aus dem Ladenbestand, mal mit einem Tempotaschentuch vorlieb nehmen. Eine interessante Variante: wenn im Eifer des Gefechts die (Papier-)Fetzen fliegen.

Diesen Post schreibe ich freilich in Argentinien, wohin wir kurz vor dem Feiertag geflohen sind - nicht vor den vielen Flaggen oder der cueca, sondern vor dem anhaltend schlechten Wetter.

PS: Etwas Nettes zum dieciocho hat sich die Onlineredaktion der "Tercera" ausgedacht: "Audiofotos", sprich mit O-Tönen unterlegte Fotostrecken. Es geht um National-Ikonen wie Papierdrachen, Empanadas, Chamantos und das Rayuela-Spiel. Anklicken lohnt.

Donnerstag, 3. September 2009

Mapuche-Konflikt: Indigene sehen kein Land

Begräbnis des Mapuche-Aktivisten Jaime Mendoza (Bild: dpa)

Über den Konflikt der Mapuche mit dem chilenischen Staat habe ich im Blog bisher noch nichts geschrieben. Zum einen, weil dieser Konflikt hier in Puerto Montt nicht ausgetragen wird, zum anderen, weil das Thema unerhört komplex ist und man sich leicht auf vermintes Gelände begibt. Die Fragen, um die es hier geht - Muss Chile seinen Ureinwohnern im großen Maßstab Land zurückgeben? Sollen sich die Mapuche womöglich autonom verwalten? Und: Wer sind überhaupt die Mapuche? - sind brisant und ideologisch extrem aufgeladen.

Wie schwierig es ist, diesen Konflikt in ein paar Absätzen zu beschreiben, ohne in diverse Fallen zu tappen, zeigt ein jüngst im "Freitag" erschienener Bericht - an dem manches stimmt und manches leider gar nicht. Richtig ist, dass die Landbesetzungen in der Araucanía, dem historischen Haupt-Siedlungsgebiet der Mapuche, in diesem Jahr deutlich zugenommen haben. Allerdings schwelt der Konflikt schon seit Jahren, und seit Jahren kommt es auch immer wieder zu Brandanschlägen oder Baumfällungen auf Ländereien von Forstunternehmen oder privatem Großgrundbesitz. Und nicht erst die Regierung von Michelle Bachelet hat damit begonnen, in der betroffenen Region polizeilich (das heißt in Chile: quasi-militärisch) aufzurüsten. Der am 12. August durch einen Schuss in den Rücken getötete Jaime Mendoza ist bereits das dritte Opfer von Polizeigewalt seit dem Jahr 2002. (Hier und hier ein anschaulicher Abriss der Auseinandersetzungen.)

Andererseits ist auch die Gewalt der Mapuche-Aktivisten real, und es lässt sich nur mit Wunschdenken erklären, wenn der Autor des Artikels nahelegt, der Angriff auf einen voll besetzten Überlandbus - also auf völlig unbeteiligte Menschen - könne "fingiert" sein. Eine Interpretation, von der in Chile nie zu hören war, zumal die radikalste Mapuche-Fraktion, die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM), sich den Anschlag eindeutig zugeschrieben hat. Falsch wiederum ist, dass der Sonderbeauftragte der Regierung, José Antonio Viera-Gallo, vor "Steinwürfen" fliehen musste - da waren die "gewaltbereiten Wilden" eben doch nicht so gewalttätig, wie der Text unterstellt.

A propos "gewalttätige und faule Eingeborene": Dieses rassistische Klischee wurzelt tief in der chilenischen Gesellschaft - aber dass es die Massenmedien heute noch ungehemmt verbreiteten, ist nicht richtig. Richtig ist, dass etwa der "Mercurio" unlängst einen Aufsatz des Historikers Sergio Villalobos druckte, der - auf der Grundlage von Informationen, die zu prüfen wären - behauptet, viele Mapuche hätten ihr Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts ohne Not an chilenische Siedler verkauft. Außerdem handele es sich bei den Mapuche größtenteils um Mestizen, denn die "Frontera", die Grenze, an der die Ureinwohner den spanischen Eroberern Einhalt geboten hatten, sei viel durchlässiger gewesen als landläufig angenommen. Villalobos spart dann auch nicht mit Ideologie: Ja, es habe punktuell gewalttätige Landnahmen gegeben, aber die Mapuche/Mestizen hätten schließlich von ihrer Eingliederung in die chilenische Marktwirtschaft nur profitiert. Glaube das, wer will.

Ganz schwierig wird es bei der Frage, wie der Landkonflikt zu lösen sei - bzw. ob es sich überhaupt nur um einen Konflikt um einzelne Flächen handelt. Fragt man Aucán Huilcamán, den Vorsitzenden des von ihm selbst gegründeten "Consejo de Todas las Tierras", lautet die Antwort seit längerem: autogobierno. Erst wenn sich das Mapuche-Volk selbst regiere - und zwar vom Bío-Bío-Fluss südwärts -, sei die historische Schuld der Chilenen beglichen. Um ein autogobierno finanziell auszustatten, könne der chilenische Staat ja Reparationszahlungen für anderthalb Jahrhunderte Besetzung leisten.

Solche Forderungen sind nicht nur fundamentalistisch, weil sie bewusst ignorieren, dass die meisten Mapuche heute in Santiago leben, während sie selbst in der Araucanía zahlenmäßig in der Minderheit sein dürften. Sie definieren gleichzeitig alle "Chilenen" - zu denen Huilcamán und andere radikale Mapuche-Aktivisten sich niemals zählen würden - im Süden des Landes als Usurpatoren, auch wenn die meisten selbstverständlich weder Ländereien noch Kiefernplantagen besitzen, sondern ganz bescheidene Menschen mit mestizischer Identität sind, die sich auch nicht ausgesucht haben, in welchem Landstrich sie in vierter oder fünfter Generation geboren wurden.

Die Verachtung, mit der manche radikalen Mapuche ihre mestizischen Mitbürger adressieren, ist die hässliche Spiegelung des Mehrheits-Rassismus. Dabei ist alles andere als klar, wer überhaupt Mapuche ist. Nach dem letzten Zensus, bei dem die ethnische Selbstzuordnung abgefragt wurde, leben nur gut 600.000 Mapuche in Chile. Möglicherweise sind es auch mehr - aber welche Kriterien legt man hier an? Die Sprache, das Mapudungun, wird von den urbanen Mapuche kaum noch beherrscht. Praktizierte Kultur? Selbst die Mapuche der ländlichen comunidades, also der Reduktionen, in die man sie verbannt hat, pflegen heute einen weitgehend "westlichen" Lebensstil. Und wer wollte umgekehrt einem abstammungsmäßig "reinen" Mapuche verbieten, sich als Chilene zu fühlen und ein modernes städtisches Leben zu führen, anstatt sich dem - hypothetischen - Diktat einer indigenen Identität zu unterwerfen?

Auf welchen Insitutionen und Verfahrensweisen ein autogobierno überhaupt beruhen sollte, diese Frage wirft etwa José Mariman in einem nicht ganz neuen, aber völlig aktuellen Essay auf: Seiner Überzeugung nach gibt es gar kein traditionelles Modell einer organisierten Mapuche-Gesellschaft, weil diese lediglich aus Familienverbänden bestand, die nur in Ausnahmefällen Zweckbündnisse eingingen. Die comunidades, wie sie in Chile heute existieren, sind dagegen das Ergebnis der Einverleibung der Auraucanía durch den chilenischen Staat. Dennoch ist das idyllische Bild einer Mapuche-Gemeinschaft, die alle Fragen kommunitär löst, weit verbreitet, genauso wie die Projektion vom naturliebenden Indigenen, die gerade bei jungen, urbanen Nicht-Mapuche große Popularität genießt - laut Mariman, Politikwissenschaftler und selbst Mapuche, ein völlig irregeleiteter Mythos vom "edlen Wilden".

All das ändert freilich nichts am Grundproblem: dass die Mapuche in der Araucanía viel zu wenig und dabei schlechtes Land besitzen, und dass sie, genau wie die Mapuche in den Städten, Opfer von Rassismus sind. Die Regierungen der Concertación haben einiges getan - Land verteilt, Förderprogramme aufgelegt -, aber das reicht nicht. Immerhin hat der chilenische Kongress Anfang 2008 die ILO-Konvention 169 über die Rechte indigener Völker ratifiziert, und seit diesem April läuft eine Verfassungsänderung durch die Mühlen des Parlaments, die den pueblos originarios ihren eigenen Status innerhalb einer "unteilbaren, multikulturellen chilenischen Nation" zuerkennen soll. Aktivisten wie Huilcamán ist das natürlich ein Gräuel, für alle anderen vielleicht ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Mittwoch, 19. August 2009

Sex, Lügen und Katechismus

Ein Heiliger der ganz besonderen Art: Marcial Maciel (Foto: dpa)

Um eine besonders unappetitliche Mischung aus Katholizismus, Personenkult und Kindesmissbrauch ging es gestern Abend im chilenischen Fernsehen: Der staatliche Sender TVN brachte eine Reportage über die Opfer von Marcial Maciel, dem Gründer der "Legionäre Christi". Der Mexikaner Maciel (1920-2008) hatte den streng konservativen Orden im Jahr 1941 in Mexiko-Stadt gegründet, heute ist er in über 20 Ländern vetreten, über 600 katholische Priester gehören ihm an. Untrennbar mit der Kongregation verbunden ist die Laienbewegung "Regnum Christi" mit mehr als 60.000 Mitgliedern.

Der charismatische und ausgesprochen papsttreue Maciel führte indes ein Doppelleben. Seit den 60er-Jahren kursierten Gerüchte über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in den Schulen des Ordens - Gerüchte, die sich viel später bestätigen sollten. Da der Mexikaner hohes Ansehen bei Johannes Paul II. genoss - die Legionäre galten als die neue, schlagkräftige Truppe des Vatikans -, geriet die Causa Maciel erst nach dem Tod dieses Papstes in Bewegung. Die Glaubenskongregation "lud" den inzwischen 86-Jährigen im Mai 2006 "ein", ein zurückgezogenes Leben "in Gebet und Buße" zu führen. Bei seiner Beerdigung war kein päpstlicher Vertreter zugegen.

Anfang 2009 kam es zum Super-GAU für die Legionäre: Maciel habe eine Tochter, möglicherweise sogar mehrere leibliche Kinder, hieß es - und die Kongregation musste diese Information zähneknirschend bestätigen. Seitdem haben die von den Legionären betriebenen Einrichtungen, in denen man den Gründer noch vor kurzem wie einen Heiligen verehrte, fast alle Hinweise auf Maciel aus ihren Webauftritten getilgt. Wie man in Chile hört, hängen auch keine Maciel-Porträts mehr in den exklusiven Schulen des Ordens, das Thema wird von Chiles katholischer Upper-Class totgeschwiegen.

Nach der Ausstrahlung der Reportage von TVN wird ihr Schweigen noch ein bisschen peinlicher sein. Die Zeugnisse von Männern, die Maciel vor Jahrzehnten missbraucht hat, und die sich zum Teil erst jetzt trauen, öffentlich zu reden, sind so abstoßend wie grotesk. Einen von ihnen, damals Schüler in Maciels erster Ordensschule, einem seminario menor, das Jugendliche ohne Umwege auf die Priesterlaufbahn setzt, hatte der Pater beiseite genommen und ihn auf das Laster der Masturbation angesprochen. Man könne medizinisch etwas dagegen unternehmen - aber dazu brauche man eine Samenprobe. Und um diese zu erhalten, legte Maciel gleich selbst Hand an.

Seit dem 15. Juli ist eine "apostolische Visite" im Gange, die dem Vatikan einen Bericht über das Innenleben des Ordens liefern soll. Fünf Bischöfe, unter anderem Ricardo Ezzati, Erzbischof von Concepción, sind weltweit unterwegs und besuchen Institutionen der Legionäre. Viel erwarten darf man von diesem Prozedere nicht: Wie zu lesen war, bestand Ezzatis "Untersuchung" der Legionärs-Universität Finis Terrae in einem einstündigen Treffen mit dem akademischen Rat.


Montag, 6. Juli 2009

Hormoneller Aufruhr

Der Gesundheitsausschuss des chilenischen Abgeordnetenhauses gleicht dieser Tage einem Seminar der Reproduktionsmedizin. Experten - durch die Bank Männer - werden angehört, die in länglichen Powerpoints den Menstruationszyklus zerpflücken und Kurven hormoneller Ausschüttungen interpretieren. Dabei geht es nur um eine Frage: Ist die "Pille danach" eine Abtreibungspille oder nicht?

Die Vorgeschichte wurde im Blog schon angedeutet - es geht um den erbitterten Kampf der katholischen Ultrarechten gegen das Hormon Levonorgestrel, das etwa unter dem Markennamen "Postinor 2" Schwangerschaften auch noch nach einem ungeschützten Geschlechtsverkehr verhindern kann. Der Wirkstoff bzw. die entsprechenden Präparate sind fast in jedem Land der Welt erhältlich, die WHO empfiehlt ihre Rezeptfreiheit als probates Mittel zur Vorbeugung ungewollter Schwangerschaften.

In Chile, wo Abtreibung selbst dann unter Strafe steht, wenn die Frau vergewaltigt wurde oder durch die Schwangerschaft gesundheitlich gefährdet ist, hat eine Gruppe rechter Parlamentarier im vergangenen Jahr eine Beschwerde eingereicht, der das Verfassungsgericht entsprach. Seitdem dürfen Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens die píldora del día después nicht mehr abgeben. Nach einer Entscheidung des chilenischen Rechnungshofs vom April dieses Jahres darf das Präparat auch nicht mehr von quasistaatlichen Einrichtungen wie Stadtverwaltungen oder NGOs bereitgehalten werden. Verboten ist es deswegen noch lange nicht, aber gerade arme Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft am meisten in Bedrängnis bringt, haben am wenigsten Chancen, es in einer Apotheke käuflich zu erwerben.

Das Argument der beschwerdeführenden Abgeordneten: Die Pille danach sei "abortiv", also eine Abtreibungspille - und seine Abgabe damit nicht verfassungsgemäß. Tatsächlich ist der Stand der Wissenschaft ein anderer: Das hoch dosierte Levonorgestrel verhindert kurzfristig den Eisprung und somit überhaupt die Befruchtung (hier ein ausführlicher Bericht). Die von den Gegnern bemühten Experten können das Gegenteil nicht beweisen, argumentieren aber, es bestehe zumindest fallweise die Möglichkeit, dass die Pille die Einnistung eines bereits befruchteten Eis verhindere. Für einen rechten Katholiken ist das natürlich - wenn es denn so ist - Mord.

Hormon der Zwietracht: Levonorgestrel (Quelle: Wikipedia)

Dass sich das Parlament jetzt wieder mit dem Thema beschäftigt, liegt an einem von Präsidentin Michelle Bachelet im Eilverfahren auf den Weg gebrachten Gesetzentwurf, der eine klare gesetzliche Grundlage für Beratung und medizinische Betreuung von Frauen in Fortpflanzungsfragen legen soll - die Abgabe von Notfall-Kontrazeptiva durch öffentliche Einrichtungen eingeschlossen. Am 30. Juni wurde der Entwurf an den Kongress überwiesen, beide Kammern haben jeweils zehn Tage Zeit zur Beratung.

Die Eil-Initiative hat auch mit dem Wahlkampf zu tun: Der Kandidat der rechten "Alianza por Chile", Sebastián Piñera - in Wertefragen deutlich liberaler eingestellt als viele Politiker seines Lagers -, hatte angekündigt, einer Neuregulierung der Abgabe nicht im Weg zu stehen. Irgendetwas gewinnt Bachelet also auf jeden Fall: Entweder das Gesetz geht durch den Kongress, in dem die regierende Concertación keine Mehrheit mehr hat, oder Piñera blamiert sich als General ohne Truppen. Andererseits: Auch wenn das Gesetz durchkommt, werden die fanatischen Pillengegner erneut den juristischen Weg einschlagen. Das haben sie bereits angekündigt.

Hinter diesen Parlamentariern steht ein fundamentalistisch-katholisches Netzwerk. Darin spielen Organisationen wie das "Opus Dei" und die "Legionäre Christi" eine wichtige Rolle, die in der chilenischen Oberschicht höchst populär sind. Wie die "Pro-Vida"-Fraktion tickt, kann erahnen, wer diese Liste betrachtet, auf der vermeintliche Instituciones Anti-Vida aufgeführt, also "lebensfeindliche Einrichtungen": von Amnesty International und Unicef bis Weltbank und EU.

Der Gerechtigkeit halber muss man sagen: Es gibt auch Kirchenleute, die sich tatsächlich um die Probleme der Menschen kümmern - wie Felipe Berríos. Der Jesuit hat vor gut zehn Jahren die Organisation "Un Techo para Chile" (Ein Dach für Chile) ins Leben gerufen, ein Freiwilligenwerk großen Ausmaßes. Es hat sich zum Ziel gesetzt, bis zur Zweihundertjahrfeier der chilenischen Republik im September 2010 den campamentos - Slums - durch den Bau einfacher, menschenwürdiger Häuser ein Ende zu bereiten. Berríos klagt über "Taliban" in der katholischen Kirche, die die "Pille danach" verteufeln, anstatt pragmatisch zu handeln.

"Ich mache mir Gedanken darüber, was mit den Menschen geschieht, wenn sie geboren sind" sagt Berríos gerne, und dass er am liebsten ein Plakat drucken würde, das Bewohner eines Slums zeigt und dazu die Worte "Auch sie sind befruchtete Eizellen". Um den Schutz letzterer kümmerten sich viele seiner Mitbrüder nämlich mit großem Eifer - aber nicht um das Elend derer, die daraus erwachsen.

Montag, 29. Juni 2009

Vatertag


Der Chilene, das hat eine Umfrage der Zeitung La Tercera ergeben, will kein Macho mehr sein. Hier ein paar Zahlen:

76 Prozent der befragten Männer finden nicht, dass Hausarbeit reine Frauensache ist (schon einmal gebügelt hat aber nur die Hälfte),
74 Prozent sind der Ansicht, dass Verhütung und Familienplanung auch den Mann etwas angehen,
69 Prozent meinen, dass eine verheiratete Frau durchaus auch Männer als Freunde haben darf,
aber nur 14 Prozent würden behaupten, dass eine Frau ihrem Ehemann nie widersprechen darf.

Sicher: Da ist noch mehr drin.

Aufschlussreich ist die Befragung in Bezug auf die sozioökonomische Verteilung der Einstellungen. Je wohlhabender (und jünger), desto liberaler, je ärmer (und älter), desto konservativer sind Chiles Männer in Sachen Ge­schlech­ter­ge­rech­tigkeit. Aber das dürfte auch anderswo so sein.

An der Montessori-Schule, die B. und J. besuchen, bewegen wir uns ver­gleichs­wei­se auf extrem liberalem und politisch progressivem Terrain. Trotzdem wird der día del padre nicht nur hier gebührend gefeiert, es gibt landesweit denselben Bohei wie um den Muttertag, was natürlich auch aufs Konto des Einzelhandels geht.

Mir haben die beiden Söhne weder einen Werkzeugkasten noch ein Grillbesteck geschenkt, dafür Basteleien und unvergessliche Augenblicke. J. hat bunt an­ge­mal­te Farfalle-Nudeln um ein Foto von sich geklebt (eine auch in Berliner Kitas ver­brei­tete Technik), Stullen geschmiert und ein Gedicht in der Gruppe aufgesagt. B.s Klasse hat, ihrem Alter entsprechend, ein anspruchsvolleres Programm auf die Beine gestellt.

Gekommen sind praktisch alle Väter, auf Arbeit ist gerade Mittagspause. Die Mütter am Muttertag waren schon um 11 Uhr vormittags eingeladen. Nacheinander tragen die Jungen und Mädchen Gedichte und Lieder vor, die mit großem Applaus quittiert werden. B.s Gedicht lautet auszugsweise so:

Papacito lindo de mi corazón,
soy el doble tuyo
y tu eres mi orgullo
y me llenas de amor.

Dann werden die Geschenke überreicht: Die Kinder haben in den vergangenen Tagen eifrig Skulpturen aus Pappmaschee gebastelt, welche die Vorlieben oder Hobbys der Väter symbolisieren. Francos Vater ist Polizist (und in Uniform erschienen), er bekommt ein großes "U", das für einen populären Fußballverein steht. Sofías Vater trägt Glatze und Piercing, er bekommt etwas Quadratisches mit der Aufschrift "Pink Floyd" ("Eigentlich höre ich ja Rammstein, aber Sofía wusste wohl nicht, wie man das schreibt", sagt er anschließend). Es gibt Gitarren, die aussehen wie Tennissschläger, und umgekehrt. Ich bekomme einen Teller mit Essen, natürlich auch aus Pappe.

Den krönenden Abschluss bildet ein Playbackkonzert. Franco macht den Sänger, Inti den Gitarristen, Alonso hält den Bass, ein paar andere sind die Rhyth­mus­gruppe. B. steht am Keyboard. Gespielt wird "Que nadie se entere", eine Cumbia der Gruppe "La Noche", die in den vergangenen Sommern einige Hits und bei der letzten Teletón einen großen Auftritt hatte. Das Lied stammt vom Album "Amor entre sábanas" (Liebe zwischen Bettlaken) und geht so:

Nadie nunca se enterará
en ese cuarto de hotel
que nos amamos los dos
juntos al amanecer.

Y no le digas jamás
a tu hombre ni a mi mujer
que el mundo no entenderá
que nos deseamos (...)

Una otra y otra vez
que nadie se entere
a escondidas devorarnos de placer.

Una otra y otra vez
que nadie se entere
nuestra reunión será un secreto dulce miel.

Benjamin trällert es jetzt immer beim Autofahren. Verstanden hat er es natürlich von allen Beteiligten am wenigsten. Immerhin - das abschließend zum Thema machismo - beschreibt der Song eine einvernehmliche, sprich: gleichberechtigte Sexualhandlung, sprich: Seitensprung.

Freitag, 26. Juni 2009

Klassenfahrt nach Washington

Chilenen im Ausland sind drollig. Ständig schießen sie Be­weis­fo­tos, die den Daheimgebliebenen zeigen, was sie von der großen wei­ten Welt ge­se­hen haben. Vor allem aber müssen sie selbst mit drauf sein, gerne in der Gruppe, in allerlei komischen Posen oder mit der zum Victory-V ge­form­ten Hand - so ist es in Chile Brauch.

Immerhin die Hände unten gelassen haben die Pressevertreter in der De­le­ga­tion von Präsidentin Michelle Bachelet, die am Dienstag eine halb­stün­dige Audienz bei ihrem Amtskollegen Barack Obama bekam. Im An­schluss outeten sich die Berichterstatter als hoffnungslose Oba­ma-Fans und überredeten ihn mit Schmeicheleien ("You must come to Chile. Everybody loves you there") und rationalen Argumenten ("We travelled such a long way") zu einem Gruppenfoto im Rosengarten des Weißen Hauses. Wie eine aufgekratzte Schulklasse drängelten sie sich um den Präsidenten, die eigene Würdenträgerin vergaßen sie dabei fast.

Zuhause waren natürlich alle neidisch auf die tollen Bilder und schrieben Böses über die verwischte Grenze zwischen Berichterstattung und Fan­dom. Auch ein paar Blogschreiber in der US-Hauptstadt fanden die Dis­tanz­lo­sig­keit der Chilenen befremdlich. Dabei ist sie doch ein treues Ab­bild der Obama-Manie, die in Chile immer noch herrscht: Der so sichtbar andere Präsident ist nicht weniger populär, als es einst Michael Jackson war - für den sich die Nach­rich­ten­mo­de­ratorin des Staats­fern­se­hens gestern Abend ganz in schwarz gehüllt hatte.

Ein wenig untergegangen ist bei der Foto-Affäre, dass Obama kurz zuvor eine ganze Menge Hoffnungen enttäuscht hatte: Nach dem Tête-à-tête mit Bachelet hatte er einem chilenischen Journalisten außerplanmäßig eine Frage gestattet, die dann etwas schwer verdaulich ausfiel: Ob er, Obama, sich für die Mitwirkung der CIA an der Vorbereitung des Putschs von 1973 entschuldigen werde. Die knappe Antwort: "Die Vereinigten Staaten haben immer für das Gute gekämpft. Ich denke, den einen oder anderen Fehler haben wir dabei begangen", so der Liebling der Presse. "Aber mir geht es darum, voranzukommen und nicht zu­rück­zu­schau­en."


Bild anklicken! (Quelle: La Tercera)

Montag, 15. Juni 2009

Wege zum Radfahren

Als ich 1991 zum ersten Mal auf einem Fahrrad durch Santiago de Chile fuhr, war es reine Glücksache, dass ich mein Ziel lebendig erreichte. Nicht nur war das Rad kaum verkehrstüchtig - die Autofahrer nahmen nicht die geringste Rücksicht auf Nichtmotorisierte. Ent­spre­chend oft be­geg­nete man anderen Radlern: praktisch nie.

Knapp zwanzig Jahre später ist das Radfahren immer noch kein Mas­sen­phä­nomen, aber trotzdem hat sich, zumindest in Santiago, eine Menge ge­tan. Zu­sam­men mit den zarten Ansätzen einer zweiradgerechten Infrastruktur ist auch ein neues Bewusstsein für die Vorzüge des Fahrrads gewachsen, das früher, wenn überhaupt, als Arme-Leute-Verkehrsmittel galt. Jetzt bekommt es langsam das Image, das es verdient: billig, sauber, gesund - und im Berufsverkehr dem Auto oft überlegen. Ihr Verdienst daran haben Vereine wie Bicicultura, die für eine fahrradfreundliche Gesetzgebung kämpfen, Radfestivals organisieren und das Leitbild einer ciudad ciclable (also einer fahrradgerechten Stadt) propagieren. Noch kann man hier von Berliner Zuständen nur träumen, aber die Richtung stimmt.

In anderer Hinsicht ist es sogar möglich, auf die "Fahrradstadt Berlin" mit leichtem Stolz herabzublicken: Seit ein paar Jahren ist das Projekt CicloRecreoVía im Entstehen. Dabei handelt es sich um die allsonntägliche Sperrung von mehreren zentralen Straßenkilometern pro Stadtbezirk, auf denen dann von morgens 9 Uhr bis nachmittags 14 Uhr Menschen Rad fahren, skaten, joggen oder einfach nur spazieren gehen können. Das Angebot wird bereits in zwei Bezirken mit der Unterstüzung Freiwilliger realisiert, weitere drei Bezirke sollen bald folgen. Wenn sich die Hoffnungen der Organisatoren erfüllen, steht am Ende irgendwann ein stadtumspannendes Netz aus "Rad-Erholungs-Wegen".

Ausgedacht haben sich das allerdings nicht die Chilenen. In der ko­lum­bia­ni­schen Haupt­stadt Bo­go­tá werden seit Mitte der Neunziger jeden Sonntag rund 120 Ki­lo­me­ter innerstädtische Straße abgesperrt. Hier eine kleine Doku über die Ci­clo­vía von Bogotá:



Nichts gegen die alljährliche Sternfahrt - aber wann kommt die allwöchentliche Berliner ciclovía?

Donnerstag, 4. Juni 2009

Schwer vergrippt

Die nächsten Ferien stehen eigentlich erst im Juli an - aber in Puerto Montt geht zurzeit kaum ein Kind in die Schule. Das hat unterschiedliche Gründe: An den öffentlichen Schulen Chiles streiken seit vorletzter Woche die Lehrer, um eine von der Regierung in Aussicht gestellte, aber nie ausgezahlte Sonderzulage einzufordern. Noch ist keine Einigung ist in Sicht. Die vielen privaten Einrichtungen betrifft das nicht - dennoch sind viele mindestens bis kommende Woche geschlossen. Wegen Schweinegrippe.

Tatsächlich verbreitet sich das Virus in Chile so schnell wie in kaum einem anderen Land, und am schnellsten greift es in Puerto Montt um sich. Warum das so ist, stellt für die Gesundheitsbehörden ein Rätsel dar. Wahrscheinlich hat es viel mit dem feuchtkalten Wetter zu tun, das hier unten jeden Winter für generalisierte Atemwegsbeschwerden und Gliederschmerzen sorgt. Heute gibt es in der Stadt knapp 40 bestätigte Fälle von influenza humana, ziemlich genau so viele wie in ganz Deutschland. In Chile bewegt sich die Zahl auf die 400 zu, Dunkelziffer unbekannt. Dabei war überhaupt erst vor drei Wochen der erste Ansteckungsfall in Santiago bekannt geworden.

Am vergangenen Sonntag hat die Grippe auch ihr erstes chilenisches Opfer gefordert: Im Krankenhaus von Puerto Montt starb ein 37-jähriger Klempner. Wie es so weit kommen konnte, ist nicht ganz klar. Die Ärzte vertreten die Ansicht, dass der Patient erst vorstellig wurde, als es praktisch schon zu spät war, die Angehörigen machen die schlechte und schleppende Versorgung in der öffentlichen Einrichtung dafür verantwortlich.

Wegen der regionalen Häufung will auch Gesundheitsminister Álvaro Erazo in den kommenden Tagen mit einem Expertenteam nach Puerto Montt kommen. Er sollte sich in Acht nehmen: Seine erste Beamtin vor Ort, die Direktorin des regionalen Gesundheitsdienstes, hat sich, wie heute bekannt wurde, ebenfalls mit Influenza A-H1N1 angesteckt. Am Montag will die Ärztin aber schon wieder zur Arbeit erscheinen. Dann soll auch der Unterricht an vielen Privatschulen weitergehen, der in dieser Woche eingestellt wurde, um einer weiteren Ausbreitung des Virus vorzubeugen.

Die Atemmasken sind jetzt tatsächlich ausverkauft.

Mittwoch, 27. Mai 2009

Farben machen Leute


J. hat seit ein paar Wochen eine Schuluniform, er trägt sie mit Stolz. Eigentlich ist es mehr ein Trainingsanzug als eine Uniform, aber Farbgebung und Schriftzug der Schule (zu der sein Kindergarten gehört) weisen ihn als Teil einer Gruppe aus, mit der er sich gerne identifiziert. Zu den Vorzügen seiner und B.s Schule gehört andererseits, dass das Tragen der Trainings-Uniform freiwillig ist. In den staatlichen und auch den meisten anderen Privatschulen ist das nicht so: Hier herrscht strenge Uniformpflicht. Nachmittags, nach Unterrichtsende, sieht man Trauben, ach was: Herden Uniformierter über die Straße ziehen.

In Deutschland flammt ja alle Jahre wieder die Debatte auf, ob Schuluniformen nicht doch von Vorteil wären, um sichtbare Statusunterschiede zwischen Schülern und überhaupt deren Fixierung auf Äußerlichkeiten aufzuheben. Vor dem Hintergrund unserer hiesigen Erfahrungen muss man sagen: Auf gar keinen Fall!

Nicht dass die chilenischen Schüler kreuzunglücklich wären mit ihren einheitlichen Anzügen, Sweatshirts und Röckchen - auch wenn letztere ihre Trägerinnen teilweise überdeutlich sexualisieren (man hat dann bisweilen dieses Molotov-Cover vor Augen). Dass auch optisch neutralere Uniformen mehr Probleme schaffen als sie lösen, hat mehrere Gründe:

1. Die Status-Differenzen werden nur subtiler. Wer Einheitskleidung trägt, verdeutlicht seine überlegene soziale Stellung durch Jacken, Armbanduhren, Brillengestelle, IPods, Handys undsoweiter. Umgekehrt ist die sichtbare Alterung der Uniform (die schon der große Bruder tragen musste) ein Ausweis für ökonomische Schwäche.

2. Der Lehrer wird zur Bekleidungspolizei. Eigentlich müsste S. fast jeden Tag Schüler bei der inspectoría, den schulinternen Ordnungshütern, melden. Denn damit Uniformen uniform wirken, muss man permanent auf ihrem korrekten Tragen bestehen. Sonst schleichen sich ganz schnell wieder Spuren von Individualität ein - etwa indem jemand Schuhe mit drei Streifen trägt anstatt solcher, deren Marke weniger deutlich erkennbar ist. Natürlich meldet S. die Schüler nicht.

3. Auf das stärkste Argument gegen Schuluniformen wäre ich in Deutschland, wo ja keine diesbezügliche Praxis herrscht, nie gekommen: Uniformen stigmatisieren. Nicht in der Schule, sondern auf dem Schulweg. In einem Land wie Chile, wo Klassenunterschiede sich nahtlos ins Bildungswesen fortsetzen, ist das natürlich besonders krass. Schon von weitem erkennt man, aus welchem Stall der andere kommt, ob die wirtschaftliche Situation seiner Eltern für das Privatinstitut mit dem klingenden Namen reicht oder gerade einmal fürs liceo técnico, auf das die späteren Arbeitslosen gehen. Rotgraue, Gelbblaue, Grünkarierte bzw. Alphas, Betas, Gammas.

Die Schule, an der S. unterrichtet und auf die B. im ersten Jahr ging, hat sich für ihre unteren Klassen etwas ganz Gemeines ausgedacht: Die Kleinen müssen eine Art Kopie jenes Trikots tragen, mit dem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft 1990 in Italien Weltmeister wurde. Inzwischen trägt B. nur noch seine eigenen Klamotten.