Samstag, 24. Oktober 2009

Feinste Unterschiede

Eigentlich unterscheiden wir uns überhaupt nicht voneinander. Trotz der gewaltigen Entfernung, trotz Sprache und Geschichte und aller weiteren kulturellen Nuancen, die wir nicht teilen, fällt es kaum einem Deutschen schwer, sich in Chile zurechtzufinden. Man isst hier weder Hunde noch Insekten, niemand muss sich das Gesicht verhüllen, und wer den Kopf schüttelt, meint tatsächlich "nein".

Trotzdem stößt man immer wieder mal auf kleinste Differenzen, die signalisieren: Hier tickt dieses Land ein bisschen anders, hier hat sich eine abweichende Kulturtechnik etabliert. Glücklicherweise besitzen diese Dinge nicht genügend Tiefgang, um die gegenseitige Toleranz ernsthaft auf die Probe zu stellen. Kleinere Reibungsverlsute sind dennoch nicht ausgeschlossen.

"Und ich hatte so einen Hunger", stöhnt S., als sie von einer Einladung zum Kuchen bei einer Kollegin zurückkommt. Dass das Gebäck, das dank teutonischer Einwanderung tatsächlich "Kuchen" heißt, selten so schmeckt wie daheim in Deutschland - geschenkt. Rätselhaft für unsereins ist dagegen die Sitte, Gäste eine gefühlte Ewigkeit mit Smalltalk hinzuhalten, obwohl die Kaffeetafel längst gedeckt im Nebenraum wartet. A propos gedeckt: Beim Frühstück oder am Nachmittag steht in Chile die Tasse vorne und der Teller hinten, also weiter weg vom Essenden (wenn statt Tassen Gläser gedeckt sind, etwa auf dem Mittagstisch, ist dagegen alles "normal"). Warum das so ist, konnte uns bislang noch niemand erklären. Vielleicht mögen Chilenen lieber Krümel im Tee als Tropfen auf dem Brötchen?

Auch auffällig bei gegenseitigen Besuchen ist nicht etwa die Unpünktlichkeit (eine Disziplin, in der viele Deutsche inzwischen locker mithalten können), sondern die Sache mit den Schuhen. In Deutschland gehört es mittlerweile fast zum guten Ton, sich gleich hinter der fremden Wohnungstür seiner Treter zu entledigen - oder das zumindest anzubieten. In Chile würde man freiwilliges Schuheausziehen unter der Rubrik "Grober Unfug" verbuchen. Weil Füße eben unangenehm riechen, wie man mir auf Nachfrage kategorisch erklärte. Deshalb traut sich auch niemand, auf einer Nachtfahrt im Überlandbus die Zehen frische Luft schnuppern zu lassen.

Besonders auffällig sind die kleinen Unterschiede im Straßenverkehr. Ein lediglich kurioses Detail: Wer langsamer fahren will als der Hintermann, deutet diesem mit dem Blinker an, er möge doch bitte überholen. Genau wie in Deutschland - nur blinkt man hier links und nicht rechts. Also: "Da sollst du an mir vorbeiziehen" und nicht "Ich bleib hier schön am Rand". Unangenehmer für den Zugewanderten ist die Tatsache, dass man in Chile das Reißverschlussverfahren nicht kennt. Und zwar im Wortsinn: Man kennt das Konzept einfach nicht, dem Verkehrsteilnehmer von der Nebenspur, die etwa an einer Baustelle endet, das Einfädeln zu ermöglichen. Wer zuerst kommt, fährt zuerst. Sollte es daran liegen, dass hohe Verkehrsaufkommen in Chile noch ein recht junges Phänomen sind? Vielleicht muss nur mal jemand den entsprechenden Begriff in Umlauf bringen.

Es gibt noch ein paar solcher Kleinigkeiten. Etwa die Art, mit den Fingern zu zählen. Hier fängt niemand bei "eins" mit dem Daumen an - es gibt die Variante "Vom kleinen Finger aufwärts", die gerne unter Zuhilfenahme der anderen Hand gebraucht wird, sowie eine zweite, komplexere, die mit dem Zeigefinger beginnt. Und (das geht dann doch schon in Richtung "Kopfschütteln") um jemanden heranzuwinken, schaufelt man sich nicht Luft ins Gesicht, sondern streckt die Hand aus, Innenseite nach unten, und macht mit den Fingern eine kratzende Bewegung.

Mir passierte letztens folgendes: Mein Freund Chany, der zurzeit in Santiago bei einem Institut arbeitet, das Methoden der Schul- und Berufsbildung evaluiert, hatte mich gebeten, stellvertretend für ihn auf einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrer in Puerto Montt eine schriftliche Umfrage zu machen. Eigentlich ging es nur darum, Fragebögen zu verteilen und wieder einzusammeln. Das tat ich auch - und verstand nicht, weshalb die Seminarleiterin, eine ältere Dame, so pikiert war. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht.

Nach eingehender Selbstprüfung und Rücksprache mit Santiago fand ich die Lösung. Es war so: Weil man mir den Fragebogen erst kurz vor dem vereinbarten Termin mailte und ich ihn außerdem in großer Zahl kopieren musste, war keine Zeit gewesen, je vier Blätter aneinanderzuheften. Deshalb hatte ich die in einem Konferenzraum versammelten Lehrer gebeten, die vier Stapel durch die Reihen gehen zu lassen und sich jeweils ein Blatt zu nehmen - eine Technik, die man in Deutschland spätestens seit der siebten Klasse beherrscht. Aber hier nicht: "Wir sind da sehr paternalistisch eingestellt", sagt eine chilenische Freundin, "wir erwarten, dass jemand durch den Saal geht und jedem genau das in die Hand drückt, was er braucht."

Deshalb hatte das Verteilen so lange gedauert, hatten manche Teilnehmer so verwirrt gewirkt, hatte ich die Seminarleiterin dabei beobachtet, wie sie, leise fluchend, Blätter austeilte und immer wieder fragte, wem noch dieses oder jenes fehle. Mein Verhalten dagegen war - aus ihrer Sicht - leicht unverschämt: Platzt in die Veranstaltung und lässt andere seine Zettel austeilen. Glücklicherweise beinhaltete der Arbeitsauftrag noch ein längeres mündliches Interview mit mehreren Lehrern, was auch hervorragend funktionierte. Wenn man drüber spricht, geht eben alles.

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