Montag, 19. Januar 2009

Mein Freund Chany

Die Rückkehr nach Chile ist ein Kraftakt. Den zehnstündigen Aufenthalt in Zürich haben wir mit Bedacht gebucht, um dort Freunde zu treffen, damals war freilich noch nicht die Rede von zwei vergrippten Kindern gewesen. Hätten wir deswegen auf das Walliser Fondue verzichten sollen? Später, hoch über dem Atlantik, senkt flüssiges Paracetamol das Fieber auf ein erträgliches Maß, und mehr als eine Speitüte wandert körperwarm in den Müllschlucker der Flugzeugtoilette.

S. und die Kinder fliegen weiter nach Puerto Montt, ich bleibe zur Quarantäne noch ein bisschen in Santiago. Chany geht gleich ans Telefon: Klar kann ich bei ihm übernachten. Bis er von der Arbeit kommt, kann es neun Uhr abends werden, ich soll es mir solange bei ihm schon mal gemütlich machen. Das tue ich. Chanys Haus liegt in einem ziemlich armen Viertel von Santiago, es ist eine wunderbare Mischung aus Baustelle, Rumpelkammer und Oase. Ich dusche mir die Reise vom Leib, brate etwas fürs Abendessen an, lege die Beine hoch, warte. Mir wird langweilig. Ich fege ein bisschen. Ich verjage die Katzen, die in der zum Hof offenen Küche versuchen, die Hähnchenflügel aus der Pfanne zu angeln. Es ist jetzt elf. Ich lese in der Zeitung. Meine Augen brennen. Jetzt ist es Mitternacht, in Deutschland vier Uhr morgens. Um halb eins zerre ich die Gästematratze aus der Ecke und schlafe.

Als ich aufwache, ist es halb sieben. In Deutschland. In Santiago ist es halb drei in der Nacht, und ich wache auf, weil mein Freund Chany mir das Laken wegzieht und die Füße kitzelt. Ich bin müde wie ein Hund und fluche, er lacht. Weißt du wie spät es ist?, frage ich ihn. Heul doch, sagt er. Ich soll aufstehen und noch was trinken, mit ihm und seiner Freundin, die immerhin Erbarmen mit mir hat und mich wieder zudeckt. Chany kitzelt weiter. Ob ich etwa früh aufstehen müsse? So geht das noch eine ganze Weile, mein Freund, der studierte Psychologe, reißt Witze auf meine Kosten, das Licht brennt, ich liege schlaftrunken mitten im Zimmer auf dem Boden und frage mich, warum wir überhaupt Freunde sind.

Die Frage ist allerdings leicht zu beantworten. Chany habe ich vor fast zwanzig Jahren bei meinem Ersatzdienst kennen gelernt, ich bekam über ihn Familienanschluss und politische Schulung (er war damals Jungkommunist), später mieteten wir gemeinsam ein winziges Häuschen, dessen Außenmauern ein anderer Freund mit künstlerischer Ader im Agitprop-Stil dekorierte und wo wir Feste feierten, an die man sich später nur mit Mühe erinnern konnte. Aus Platzgründen und Sympathie teilten wir sogar die Matratze, weshalb uns manche neugierigen Nachbarn für schwul gehalten haben mögen, worauf ich damals aber nie gekommen wäre – wir waren einfach nur beste Freunde. Uns verband unser Sinn für Humor – insbesondere für Kalauer -, aber auch die Nikotinsucht, die uns manchmal früh morgens auf der verzweifelten Suche nach Rauch- oder Zündwaren aus dem Haus trieb. Später besuchte Chany mich in Deutschland, und wir sind Freunde geblieben, vielleicht nicht beste, aber wer weiß das schon mit Sicherheit.

Inzwischen ist es tatsächlich hell geworden in Santiago. Chany schlurft aus seinem Schlafzimmer, kratzt sich ausgiebig überall und ist plötzlich sehr freundlich. Natürlich werfe ich ihm sein Fehlverhalten vor, aber er behauptet, sich nicht erinnern zu können, er habe auf der Party zu viel getrunken. Party? Ach, egal. Lass uns nachher auf die feria gehen, sagt mein Freund und setzt sich aufs Klo, ohne die Tür zu schließen, ich habe da eine hübsche Kommode gesehen, vielleicht kann ich die noch etwas runterhandeln. Die feria ist ein großer Open-Air-Lebensmittel- und Flohmarkt, wo Chany fast jeden Sonntag irgendwelche antiken oder einfach nur alten Sachen kauft, Schilder, Flaschen, Möbel, Geräte, die dann in seinem Hof herumstehen, unter dem Weinstock und dem Zitronenbaum.

Erstmal kaufen wir aber Fisch. Ganz in der Nähe kennt mein Freund "die beste Fischhandlung weit und breit", es ist ein winziger Laden in einer staubigen Sackgasse, aber der Umsatz stimmt, die wartende Kundschaft tritt sich auf die Füße, während der Fischhändler und seine Frau hinterm Tresen merluzas und reinetas filetieren. "Die Auswahl hier ist hervorragend", sagt Chany auffällig laut zu mir, "schade, dass der Fisch selten frisch ist." An dieser Stelle drehen sich natürlich alle um, auch Don Pato, der Händler, der, wie Chany längst weiß, ein Faible für krude Späße hat. Im Dialog, der sich nun entspinnt, geht es einerseits weiter um Frische und Größe der angebotenen Fische und andererseits darum, dass Chanys Schwiegermutter beim letzten Einkauf angeblich Zweifel an seiner (nichehelichen) Treue zu ihrer Tochter geäußert haben soll, ein Gerücht, dass Don Pato offenbar in diesem Augenblick frei erfindet. Das ist alles sehr lustig, und fast habe ich Chany die nächtliche Schikane verziehen.

Später, auf der feria (die Kommode ist noch da, aber nicht billig genug) kaufen wir Obst und Gemüse. Immer, wenn die Händler routiniert zur Plastiktüte greifen, ruft Chany: Halt, tun sie's hier rein! Den blauen Stoffbeutel, den er ihnen hinhält, gab es vor ein paar Monaten bei Líder an der Kasse zu kaufen, außer meinem Freund habe ich nie jemanden gesehen, der ihn benutzt hätte. Ich tue, was ich kann, um ökologisches Bewusstsein zu schaffen, sagt Chany, das habe ich bei dir in Deutschland gelernt. Er sagt es ganz ernst, aber diese Art von Ernst kenne ich. Und ich weiß jetzt auch wieder, warum wir Freunde sind.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen