Montag, 31. März 2008

Eier und Fisch

Nicht nur verzweifelte Eltern prägen das Straßenbild im Monat März: Immer wieder stolpern verdreckte und stinkende Gestalten den Gehweg entlang und betteln um ein paar Münzen. Die beklagenswerten jungen Menschen – denn jung sind sie allesamt – wurden gerade mit dem hier üblichen Ritual von ihren Kommilitonen an einer Universität aufgenommen. Möglicherweise sind die Auswüchse des chilenischen mechoneo nicht so dramatisch wie die der französischen bizutage – entwürdigend ist es trotzdem, geteert und gefedert, mit faulen Eiern und Fisch beschmiert, mit aufgeschlitzten Hosen und ohne Schuhe auf die Straße geschubst zu werden. Deswegen gibt es auch hier eine Gegenbewegung, die das mechoneo abschaffen oder wenigstens durch zivilere Initiationsriten ersetzen möchte. Andererseits empfinden offenbar viele Opfer die Schikane als aufregendes Spiel, oder sie freuen sich schon darauf, im kommenden Jahr selbst austeilen zu dürfen.


Ihre Schuhe und die restliche Kleidung müssen sich die armen Erstsemester mit dem zurückverdienen, was sie erbetteln. Normalerweise handelt es sich um eine vorgegebene Summe, die nicht zu knapp ausfällt. Deshalb ist es geboten, nicht geizig zu sein – auch wenn man mit seiner Spende letzten Endes ein fragwürdiges und insbesondere übelriechendes Ritual unterstützt.



Samstag, 29. März 2008

Für eine Handvoll Knochen

Das Vertrauen der Nachbarn haben wir uns bereits erworben.

Verdammter März

Marzo: el mes que nos culea a todos. So drastisch wie das Satireblatt The Clinic muss man es nicht ausdrücken, aber der „Monat, der uns alle fickt“, ist bei den Chilenen in der Tat reichlich unbeliebt. Überall in der Stadt hängen Plakate, die von einer unheilvollen Marzitis künden oder fordern: Dale duro a marzo – Gib dem März Saures.

Was haben die Chilenen gegen den März? Ganz einfach: Er reißt ein riesiges Loch in die Haushaltskasse – oder gleich ganze Familien in die Schuldenfalle. Am Ende der Sommerferien müssen Schuluniformen und -materialien besorgt werden, im März haben alle Autohalter ihren permiso de circulación zu erneuern – eine kommunale Kfz-Steuer, die je nach Wagenklasse recht hoch ausfallen kann –, und die Kosten für den Urlaub müssen die meisten, die ihn sich geleistet haben, auch noch abstottern. Dementsprechend werben all die März-Plakate für Sofortkredite, mit denen man seine Geldsorgen zumindest vertagen kann.

Deswegen also ist der März ein mes pesado, ein fieser Monat. Wir können das nur bestätigen. Zwar hat uns der deutsche Staat mit dem nötigen Kleingeld ausgestattet. Aber der Alptraum aller chilenischen Eltern von Kindern im schulpflichtigen Alter – und nun auch unserer – ist la lista, die Liste. Man bekommt sie von der zuständigen Schule, und sie zählt alle Materialien auf, die Söhne und Töchter am ersten Schultag ins Klassenzimmer zu tragen haben. Auch in Deutschland klagen manche, der Schulanfang belaste ärmere Familien zu stark und müsse per Zuschuss abgefedert werden. Mag sein. Aber sie haben noch nie eine chilenische lista gesehen. Hier ein schönes Beispiel.

Von Skizzenheften über Filzstiftsets, diverse Bögen Krepp-, Bunt- und Transparentpapier, Pinsel, Scheren und bunte Knete bis hin zu so exotischen Dingen wie Eis-am-Stiel-Stäbchen und Glitzerpulver, alles muss exakt in der angegebenen Menge, Darreichungsform und natürlich deutlich lesbar mit dem Namen des Schülers beschriftet abgeliefert werden.



Auf die Idee, das Lern- und Bastelmaterial zentral zu bestellen, ist offenbar noch kaum eine Schule gekommen. Und so trifft man Anfang März – aber auch noch Wochen nach Schulbeginn – in allen Supermärkten, Schreibwarenläden und Buchhandlungen auf Heere entnervter Mütter und Väter, die zerknitterte Zettel studieren und daran verzweifeln wollen, dass nie, nie, niemals alle von der Schule verlangten Utensilien in ein und demselben Geschäft vorrätig sind. Ganz zu schweigen von den Lektürebändchen für den Spanischunterricht, die bei unterschiedlichen Verlagen erscheinen - chilenische Buchhandlungen führen immer nur das Sortiment einiger, nie aller Verlage.



Für mich endet die Suche am Abend vor Schulbeginn in der Librería Mistral. Die Schreibwarenhandlung im Zentrum von Puerto Montt ist ein unwirtlicher, von brummenden Neonröhren erhellter Schlauch, in dem eine Handvoll Angestellter unendlich langsam ihren Dienst tut. Aber es gibt hier – fast – alles. Wer diesen Ort der letzten Hoffnung betritt, zieht eine Wartenummer und kann sich während der nächsten Stunden anderen Dingen widmen. Als meine Nummer endlich auf dem Display erscheint, wird an der Eingangstür bereits das schwere Eisengitter heruntergelassen. Die Angestellte betrachtet meine Liste mit müden Augen, holt, ohne übertriebene Hast, ein paar Artikel aus den vollgestopften Regalen, kommt zurück, guckt, geht, kommt. Fast eine Dreiviertelstunde dauert die Prozedur, dann notiert sie alle Preise säuberlich untereinander auf kariertem Papier, addiert mit dem Taschenrechner, notiert das Ergebnis, addiert noch einmal zur Probe von unten nach oben. Immerhin hat sie sich nicht verrechnet.



Mit mehreren Tüten bepackt verlasse ich die Librería Mistral, das Gitter wird zu diesem Zweck halb hochgezogen. Draußen ist es längst dunkel. Zu Hause verbringe ich noch Stunden damit, eine recht störrische Klebefolie auf Schulbücher zu applizieren – grün für Spanisch, gelb für Sachkunde, blau für Mathematik usw. In der Schule werde ich mich später bei der Lehrerin dafür entschuldigen, dass ich das von der Liste verlangte Wollknäuel vergessen habe. Macht nichts, wird sie sagen, dieses Schuljahr arbeiten wir gar nicht mit Wolle. Na dann.


Dienstag, 18. März 2008

Valle Volcanes

In Valle Volcanes bellen die Hunde im Verein. Bei Einbruch der Dunkelheit beginnt das Kläffkonzert, es endet gegen elf. Warum das so ist, weiß niemand genau, womöglich tauschen sich die Tiere darüber aus, was sie so am Tag erlebt haben. Viel kann das eigentlich nicht sein, denn in Valle Volcanes geschieht ausgesprochen wenig.

Valle Volcanes heißt das Neubauviertel am Rand von Puerto Montt im Süden Chiles, wo wir uns für die kommenden Jahre niedergelassen haben. Es ist so neu, dass viele Straßen keinen richtigen Namen haben, sondern lediglich „Neue 12“ heißen oder, wie unsere, Nueva Oriente 4, „Neue Ost 4“. Auch bei der Nummerierung der Häuser musste es offenbar schnell gehen: Mitten auf der Nueva Oriente 4 wechselt plötzlich die Richtung, die Zahlen steigen nicht mehr auf, sondern machen einen Sprung, um wieder abzusteigen. Vielleicht bekommen wir deswegen fast nie Post.

In Valle Volcanes gibt es nur wenige Geschäfte, aber einen großen Supermarkt in der Mitte. Im Santa Isabel trifft sich das Viertel, vor allem abends, wenn die Einkäufe für den kommenden Tag erledigt werden. Auf der Straße – auch das ist für Chile ungewöhnlich – begegnet man sich kaum. Es mag daran liegen, dass die Bewohner von Valle Volcanes arbeitsame Menschen sind und größtenteils auch Arbeit haben. Und Autos. Mit denen verlassen die Bewohner von Valle Volcanes im Morgengrauen ihre Häuser in Richtung Innenstadt, um am Nachmittag geschlossen zurückzukehren.


Ein reiches Viertel ist Valle Volcanes nicht, eher eines der aufstrebenden Mittelschicht. In Valle Volcanes gibt es ein Dutzend verschiedener Haustypen, die sich alle sehr ähnlich sehen. Weil die spitzgiebeligen Häuschen bunt und abwechslungsreich gestrichen sind, findet man sich trotz der architektonischen Monotonie schnell zurecht. Man kann sich auch an den Erkerfenstern orientieren, die alle Häuser zieren und von den meisten Bewohnern als eine Art Vitrine genutzt werden: Hier steht ein großer geschnitzer Elefant, dort eine Jugendstillampe. Spielzeuge verweisen auf Kinder, Topfpflanzen auf einen grünen Daumen.

Dass Valle Volcanes kein reiches Viertel ist, lässt sich auch an anderen Dingen ablesen. Die reichlich vorhandenen Spielplätze sind staubig und voller Steine, die Schaukeln und Wippen recht grob aus Holz und Blech montiert. Die Straßen sind nicht asphaltiert, sondern aus Zementplatten zusammengefügt, und auf der Mittelinsel des Kreisverkehrs am Santa Isabel kümmert eine dünne Palme vor sich hin, die mit dem regnerischen Klima zu kämpfen hat. Um die Müllcontainer des Viertels streichen Hunde, manche von ihnen haben offenkundig keinen Besitzer. Manchmal brennt irgendwo in der Nachbarschaft Müll, dann schließt man besser die Fenster in Valle Volcanes.

Das „Tal der Vulkane“ trägt seinen Namen übrigens zu Recht: Von hier aus hat man - bei entsprechendem Wetter - eine hervorragende Sicht auf die großen Vulkane der Umgebung. Hinter dem Supermarkt erhebt sich der Calbuco mit seinem zerklüfteten Gipfel, und der weiß gepuderte Kegel des Osorno schaut über die bewaldeten Hügel am Rande von Valle Volcanes. Dieser Anblick entschädigt für alles andere.