Mittwoch, 18. November 2009

Onkel, Tante, Nachbar

Eine höchst erfreuliche Eigenart des Spanischen ist das umfangreiche Arsenal an Anredeformen, mit denen man nie in Verlegenheit gerät. Vielleicht ist es auch gar kein Privileg des Spanischsprachigen, sondern nur umgekehrt ein deutsches Problem - jenes merkwürdige, seit Jahrzehnten grassierende Anredesterben. Womit nicht das Verschwinden obsoleter Unterwürfigkeitsfloskeln gemeint ist, sondern die peinliche Unfähigkeit, sich verbal an Menschen zu richten, die man nicht mit Namen kennt.

Der Klassiker in Deutschland: Wie rufe ich nach der Bedienung in Café, Bar, Res­taurant? Der "Ober" ist zumindest im urbanen Kontext genau so obsolet wie das "Frollein", und weil an deren Stelle nichts anderes getreten ist, behilft man sich mit einem stotternden "Äh, hallo", das allerdings genausogut einem anderen Gast oder dem eigenen Handy gelten könnte und oft ungehört verhallt. Hierzulande tun es ein simples señor, eine señora oder auch eine señorita. Wenn man bezahlen möchte (wozu jeder chilenische Kellner immer erst eine Rechnung vom separat agierenden Kassenwart holen muss), reicht auch eine Geste, die noch aus großer Entfernung verstanden wird: ein horizontales In-die-Luft-Kritzeln, das für schriftliches Ad­die­ren oder aber für die Unterschrift auf einem Scheck stehen könnte.

Das ist aber noch nicht alles. Genauso unkompliziert ist die Anrede fremder Menschen auf der Straße, wo man in Chile aus dem señor nach Belieben einen caballero machen kann (aber, warum auch immer, aus der señora nie eine dama). Gleichaltrige, informell gekleidete Menschen darf man ruhig auch als amigo bezeichnen, ohne dass die sich gleich belästigt fühlen. Jeden Nachbarn kann man einfach als "Nachbar" (vecino) adressieren - und wenn man den Menschen, der einen vor der Haustür oder an der Supermarktkasse als vecino anspricht, noch nie bewusst gesehen hat, weiß man spätestens dann, woher man ihn eigentlich kennen müsste.

Das sind nur Details, aber sie erleichtern den Alltag. Auch Kinder haben eine praktische Anrede in petto, die die Älteren möglicherweise auch im deutschen Sprachraum noch erlebt haben: den Onkel und die Tante. Ausnahmslos jeder Erwachsene, sei es der Vater des Klassenkameraden oder die Zei­tungs­verkäuferin, heißt im Kindermund tío bzw. tía, und das klingt nicht nach Knicks und Diener, sondern ganz normal und unbekümmert.

In der E-Mail-Kommunikation unter Menschen mit vergleichbarem sozialen Status gibt es jetzt sogar eine neue Anredeform. Wem ein Querido XY ("lieber XY") zu intim, ein Estimado XY ("sehr geehrter XY") aber übertrieben scheint, beginnt die Mail einfach mit "Estimado:", ohne Namen. Das schafft eine Art legerer, au­gen­zwin­kern­der Distanz, und man darf dann trotzdem duzen, ohne umständlich um Erlaubnis zu bitten.

1 Kommentar:

  1. Ich lasse mich auch gerne als 'joven' anreden (junger Mann), das habe ich in Deutschland früher auch oft gehört: "Und was kriegen Sie, junger Mann?". In letzter Zeit nicht mehr so häufig, aber das muss nicht daran liegen, dass die Anrede ausstirbt, der junge Mann wird einfach älter. Als 'viejo' (Alter) wird man auch in Chile nur tituliert wenn man es selber nicht hören kann.

    Stefan

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