Freitag, 28. August 2009

Mit Euphorie und Spucke

Chiles Rockfans sind ganz aus dem Häuschen: Faith No More, zurzeit auf Re­un­ion-Tournee, haben angekündigt, Ende Oktober in Santiago auf­zu­tre­ten. Das letz­te Mal im Jahr 1995 ist mit einer kaum zu über­bie­ten­den Skurrilität in die chi­le­ni­sche Konzert-Geschichte eingegangen: Da­mals kamen die völlig eu­pho­ri­sier­ten Fans in den ersten Reihen auf die schrä­ge Idee, Sänger Mike Patton, wenn sie ihn denn schon nicht anfassen konn­ten, wenigstens an­zu­spucken. Pattons souveräne Re­ak­tion: Er spuck­te zurück und forderte das Pub­li­kum zudem auf, in seinen ge­öff­ne­ten Mund zu zielen. Eine krasse Ge­schmack­lo­sig­keit, an die man sich in Chile noch heute gerne erinnert.


Donnerstag, 27. August 2009

Rapa Nui macht dicht


Als Patricio Rosende, Staatssekretär im chilenischen Innenministerium, ges­tern auf Rapa Nui, der Osterinsel, eintraf, bekam er zur Begrüßung einen dicken Blumenkranz um den Hals gehängt, wie es auf pazifischen Inseln Brauch ist. Der Anlass seiner offiziellen Visite ist freilich aus­ge­rech­net die wachsende Unlust, mit der die Einheimischen ihre Besucher empfangen. Die Rapanui, Nachfahren der ursprünglichen polynesischen Bevölkerung, aber auch seit langem auf der Insel lebende "Kon­ti­nen­tal­chi­le­nen" sind es leid, dass immer mehr Menschen das winzige Fleckchen Land bevölkern, das 1888 von Chile annektiert wurde und der Nation seitdem den Vorwand liefert, sich als tricontinental zu rühmen: als Land, das zugleich auf dem amerikanischen, dem antarktischen und dem ozeanischen Kontinent liege.

Waren bei der letzten Volkszählung im Jahr 2002 noch knapp 3.800 In­sel­be­woh­ner registriert worden, schätzt man die Wohnbevölkerung heu­te schon auf 5.000 - von denen die indigenen Insulaner lediglich 40 Pro­zent ausmachen. Immer mehr Chilenen, die die Neugier nach Rapa Nui führt, lassen sich dort nieder, weil sie den entschleunigten Lebensrhythmus der Südsee liebgewonnen haben. Auch viele Ausländer haben Hanga Roa, die (Haupt-)Stadt der Insel, zum Wohnsitz erkoren, hinzu kommen Jahr für Jahr zehntausende Touristen. Den Alt­ein­ge­ses­se­nen stinkt das zunehmend, auch im Wortsinn, denn das System der Müllentsorgung ist auf solche Menschenmengen nicht eingestellt. Das Leben sei, so heißt es, nicht mehr so ruhig, die Kriminalität merklich gestiegen, die weltberühmten Kultstätten der Insel litten unter dem Ansturm.

Vor einer Woche schließlich machte eine Gruppe Rapanui ihrem Zorn über die Untätigkeit der Regierung in Santiago Luft und besetzte, be­waff­net mit Fahnen und einem Zelt, die Landebahn des Insel-Flughafens Mataveri für mehrere Tage. Ihre Forderung: die Schaffung eines Einwanderungs-Rates und eine Art Masterplan, der das Wachstum der Inselbevölkerung kappen soll. Erst als Staatssekretär Rosende den Protestierenden in einer Videokonferenz versprach, persönlich auf die Insel zu kommen, räumten sie das Feld. Heute will Rosende, der unter anderem von Oscar Santelices, dem Direktor der chilenischen Tou­ris­mus­be­hör­de Sernatur, begleitet wird, an einer Art Insel-Vollversammlung teilnehmen, wo er erklären soll, was die Regierung gegen die Übernutzung von Rapa Nui zu tun gedenkt. Möglicherweise wird dabei aber auch zu Tage treten, dass nicht alle Rapanui den "Fremden" gegenüber gleich skeptisch sind: Der Ältestenrat der Insulaner, ein traditionelles Gremium ohne größere Befugnisse, hat bereits verkündet, bei den Flughafenbesetzern handele es sich nur um eine kleine Gruppe von Unruhestiftern. Man kann sich leicht vorstellen, dass Zuzugs- oder gar Reisebeschränkungen für manchen ein handfestes ökonomisches Problem darstellen würden.

Interessant an der aktuellen Auseinanderstzung ist, dass die Osterinsel schon einmal an der Übernutzung ihrer Ressourcen fast völlig zugrunde ging - vor dem ersten Eintreffen europäischer Seefahrer und der unrühmlichen Diskriminierung der Polynesier bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Jene Kultur, die die Moais, die riesigen Steinskulpturen, auf der Insel errichtete und ein komplexe Gesellschaft begründete, entzog sich durch Raubbau und Entwaldung offenbar selbst die Über­le­bens­grund­la­ge. Dem Biogeografen Jared Diamond dient die Insel deshalb als Paradebeispiel für sein Buch "Kollaps", in dem er den Zusammenbruch historischer Gesellschaften untersucht.

Einige Beobachter mutmaßen, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und die Rapanui endgültig auf die Palme gebracht habe, sei das Fußballspiel in der Copa Chile gewesen, das die Inselauswahl mit 0:4 gegen den kontinentalen Spitzenverein Colo-Colo verlor - trotz martialischer Rituale des einheimischen Clubs vor dem Anpfiff. Danach sollen etliche der eingeflogenen Colo-Colo-Fans länger auf der Insel geblieben sein, um weiter den Sieg ihres Teams zu feiern.


Fotos: P_R_ auf flickr.com (o.), Te Rapanui (u.)

Montag, 24. August 2009

Can't stand the rain


Macht sich irgendjemand da draußen eigentlich eine Vorstellung davon, was 1039,6 mm Niederschlag sind? Nach viel klingt das ja nicht: Puerto Montt stünde gerade mal einen guten Meter unter Wasser, wenn der bislang in diesem Jahr gefallene Regen nicht abgeflossen bzw. versickert wäre. Aber 1039,6 mm sind schon fast das Doppelte dessen, was in einem ganzen Jahr auf Berlin niedergeht: 581 mm (im Schnitt und in Dahlem). Dabei sind wir hier von der Erfüllung unserer Jahressolls noch weit entfernt, es liegt nach Angaben des chilenischen Wet­ter­dienstes bei 1802,5 mm. Vorstellen kann sich das kaum, wer es nicht erlebt hat.

Konkret heißt es: Es gab noch keinen Tag in diesem August, an dem es nicht ge­reg­net hätte. Das höchste der Gefühle war ein Tag, an dem es nur ein paarmal niesel­te und die Sonne so lange zum Vorschein kam, dass man die Wäsche für ei­ni­ge Stunden auf die Leine hängen konnte. An den restlichen Tagen kann man das nicht, weil sie davon nicht trockener, sonder allenfalls nasser wird. Überhaupt kann man vieles nicht bei diesem endlosen, kalten Dauerregen:

Man kann sich nicht im Haus bewegen, weil immer irgendwo ein Wäscheständer steht.
Man kann die Asche nicht entsorgen, weil der Ofen keine separate Ascheklappe hat und nie ausgehen darf.
Man kann am Wochenende keine Ausflüge unternehmen.
Man kann auch nicht in Ruhe faulenzen, weil die Kinder dringend Auslauf bräuchten.
Man kann nicht Ski fahren, weil die Lifts auf dem Vulkan wegen Regen ge­schlossen sind.
Man den Regen noch nicht einmal filmen - weil die Kamera nass wird.

Erzählen wir unseren Freunden in Santiago vom Regen, bekommen sie leuchtende Augen: Ah, Re­gen, sagen sie, wie romantisch! Für die Menschen in Santiago ist Re­gen eine willkommene Abwechslung, er spült den Staub aus der Luft und ver­ziert die Kordillere mit Schnee. Außerdem regnet es in Santiago nur an ein paar Ta­gen im Jahr. Hier unten ist der Regen keine Erfrischung, er lässt das Gras ver­gil­ben, das Holz faulen, die Straßen in braunen Seen versinken. In der öf­fent­li­chen Bücherei hat man Plastikschalen und Töpfe auf dem Boden verteilt - über­all da, wo es durchs marode Dach tropft ... tropft ... tropft ...

Ein Gutes aber hat dieses Wetter: Man sieht so viele Regenbögen wie nirgendwo sonst. Sobald es ein Sonnenstrahl durch die schwarzgrauen Wolken schafft, spannt sich die bunte Natur-Deko über den Himmel. Bei einer Autobahnfahrt vor ein paar Tagen habe ich zum allerersten Mal das Ende des Regenbogens gesehen. Bzw. den Anfang. Er befand sich an keinem konkreten, geschweige denn ent­fern­ten Ort, sondern im Auge des Be­trach­ters. Beim Fah­ren wan­der­te er einfach mit. Bis es wieder zu regnen anfing.

Nachtrag am 27. 08.: Hier noch ein paar sprechende Bilder aus dem regengeplagten Süden Chiles.

Donnerstag, 20. August 2009

Kantate, links gestrickt


Im kommenden Jahr wird sie 40 Jahre alt, aber sie hat sich gut gehalten: die can­ta­ta popular "Santa María de Iquique", komponiert von Luis Advis und ein­ge­spielt im August 1970 von Quilapayún, einer der jungen, revolutionären Neo­fol­klo­re-Gruppen, die damals Chiles Musikszene aufmischten. Die "volkstümliche Kantate" erzählt von einem Massaker, das 1907 in Iquique unter streikenden Salpeterarbeitern angerichtet wurde. Ein Stück Agitprop im ersten Allende-Jahr, aber mit außergewöhnlichen Mitteln: Musikalisch ist die cantata ein Hybrid aus klassischen und andinen Elementen; wenn man denn will, kann man sie in Rezitative, Arien und Choräle unterteilen. Nach Bach klingt das natürlich nicht, aber das Stück beeindruckt auch heute noch tief.

Luis Advis starb im Jahr 2004, Quilapayún stehen immer noch auf der Bühne, mit ein paar personellen Veränderungen und stark ergraut. Am vergangenen Dienstag traten sie mit der cantata in Puerto Montt auf. Das Publikum war, wie bei diesen Anlässen inzwischen üblich, stark altersgemischt: von Mittsiebzigern, für die als junge Revoluzzer in den späten 60ern Quilapayún, Víctor Jara und Inti Illimani zu musikalischen Ikonen wurden, bis hin zu deren Enkeln, die immer noch darauf warten, dass sich erfüllt, was das Schlusslied der Kantate fordert: Unámonos como hermanos, que nadie nos vencerá / si quieren esclavizarnos, jamás lo podrán lograr.

In einer Stadt voller Emporkömmlinge, in der man über die eigene politische Herkunft nur ungern spricht, war es aufschlussreich zu sehen, wer noch so ins Konzert ging. Bei der alleinerziehenden Bibliothekarin, deren Sohn mit J. in den Montessori-Kindergarten ging, und dem langhaarigen Theaterlehrer aus B.s Schule war die Überraschung nicht groß. S. aber staunte nicht schlecht, als sie einer Kollegin aus ihrem Institut über den Weg lief, einer gepflegten, älteren Literaturlehrerin, die sie aufgrund offenkundig falscher Gerüchte immer für eine Pinochet-Verehrerin gehalten hatte.


Hier eine aktuelle Aufnahme der Kantate "Santa María de Iquique". Seinen Namen hat das Stück übrigens von der nach einem früheren Präsidenten benannten Schule "Escuela Domingo Santa María" in Iquique geliehen. Dort wurden 1907 tausende Salpeterarbeiter und deren Familien zusammengepfercht, die für bessere Bezahlung streikten. Wie viele Opfer das von der Armee verübte Massaker letztendlich forderte, ist bis heute unklar, die Zahlen schwanken zwischen weniger als 200 und 3.600 Toten.

Mittwoch, 19. August 2009

Sex, Lügen und Katechismus

Ein Heiliger der ganz besonderen Art: Marcial Maciel (Foto: dpa)

Um eine besonders unappetitliche Mischung aus Katholizismus, Personenkult und Kindesmissbrauch ging es gestern Abend im chilenischen Fernsehen: Der staatliche Sender TVN brachte eine Reportage über die Opfer von Marcial Maciel, dem Gründer der "Legionäre Christi". Der Mexikaner Maciel (1920-2008) hatte den streng konservativen Orden im Jahr 1941 in Mexiko-Stadt gegründet, heute ist er in über 20 Ländern vetreten, über 600 katholische Priester gehören ihm an. Untrennbar mit der Kongregation verbunden ist die Laienbewegung "Regnum Christi" mit mehr als 60.000 Mitgliedern.

Der charismatische und ausgesprochen papsttreue Maciel führte indes ein Doppelleben. Seit den 60er-Jahren kursierten Gerüchte über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in den Schulen des Ordens - Gerüchte, die sich viel später bestätigen sollten. Da der Mexikaner hohes Ansehen bei Johannes Paul II. genoss - die Legionäre galten als die neue, schlagkräftige Truppe des Vatikans -, geriet die Causa Maciel erst nach dem Tod dieses Papstes in Bewegung. Die Glaubenskongregation "lud" den inzwischen 86-Jährigen im Mai 2006 "ein", ein zurückgezogenes Leben "in Gebet und Buße" zu führen. Bei seiner Beerdigung war kein päpstlicher Vertreter zugegen.

Anfang 2009 kam es zum Super-GAU für die Legionäre: Maciel habe eine Tochter, möglicherweise sogar mehrere leibliche Kinder, hieß es - und die Kongregation musste diese Information zähneknirschend bestätigen. Seitdem haben die von den Legionären betriebenen Einrichtungen, in denen man den Gründer noch vor kurzem wie einen Heiligen verehrte, fast alle Hinweise auf Maciel aus ihren Webauftritten getilgt. Wie man in Chile hört, hängen auch keine Maciel-Porträts mehr in den exklusiven Schulen des Ordens, das Thema wird von Chiles katholischer Upper-Class totgeschwiegen.

Nach der Ausstrahlung der Reportage von TVN wird ihr Schweigen noch ein bisschen peinlicher sein. Die Zeugnisse von Männern, die Maciel vor Jahrzehnten missbraucht hat, und die sich zum Teil erst jetzt trauen, öffentlich zu reden, sind so abstoßend wie grotesk. Einen von ihnen, damals Schüler in Maciels erster Ordensschule, einem seminario menor, das Jugendliche ohne Umwege auf die Priesterlaufbahn setzt, hatte der Pater beiseite genommen und ihn auf das Laster der Masturbation angesprochen. Man könne medizinisch etwas dagegen unternehmen - aber dazu brauche man eine Samenprobe. Und um diese zu erhalten, legte Maciel gleich selbst Hand an.

Seit dem 15. Juli ist eine "apostolische Visite" im Gange, die dem Vatikan einen Bericht über das Innenleben des Ordens liefern soll. Fünf Bischöfe, unter anderem Ricardo Ezzati, Erzbischof von Concepción, sind weltweit unterwegs und besuchen Institutionen der Legionäre. Viel erwarten darf man von diesem Prozedere nicht: Wie zu lesen war, bestand Ezzatis "Untersuchung" der Legionärs-Universität Finis Terrae in einem einstündigen Treffen mit dem akademischen Rat.


Sonntag, 16. August 2009

Giftiger Sand

Dass die Jahre der Pinochet-Diktatur bleiern waren, ist hinlänglich bekannt. Für manche Chilenen leider auch im Wortsinn: Mehrere tausend Einwohner von Arica, Chiles Grenzstadt zu Peru, wohnen in Häusern, die auf verseuchtem Material errichtet wurden. Die toxische Mischung, die neben Blei auch Quecksilber und Arsen enthält, wurde zwischen 1984 und 1989 von einer Firma eingeführt, die später nie die Arbeit aufnahm. Dafür wurden in nächster Nähe Sozialwohnungen für rund 15.000 Ariqueños errichtet. Die klagen seit langem über Ver­gif­tungs­er­schei­nun­gen, von chronischen Magen-Darm-Beschwerden bis hin zu neu­ro­logischen Schäden und Missbildungen bei Neu­ge­borenen.

"Importiert" wurde der Schwermetallcocktail aus Schweden. Es handelt sich um insgesamt 21.000 Tonnen Schlacken, ein Abfallprodukt des Bergbauunternehmens Boliden AB. Weil Arica Sonderwirtschaftszone ist, mussten keine Steuern oder Abgaben für die Einführung des giftigen Materials gezahlt werden. Kontrolliert wurde dessen Toxizität auch nicht - sonst hätten die Behörden wohl festgestellt, dass es sich keineswegs um lediglich "mindergiftige Rückstände" handelte. Das behauptete Promel, die chilenische Firma, der die Wiederaufarbeitung dann offenbar zu teuer wurde - weil sich der Wechselkurs verschlechtert und den Import notwendiger Geräte und Chemikalien extrem verteuert hatte. Die Firma zog nach einigen juristischen Windungen den Kopf aus der Schlinge und hinterließ der Wüstenstadt ein giftiges Erbe.

Das Gewerbegebiet im Norden Aricas hatte seine besten Zeiten in den Sechziger- und Siebzigerjahren gesehen, als die Regierungen in Santiago eine offensive In­dus­trie­po­litik betrieben und viele Betriebe, insbesondere aus der Au­to­mo­bil­branche, ansiedelten. Erst im vergangenen Jahr wurden hier die letzten Chev­ro­let-Pickups montiert, die massenweise durch Chile rollen. Dank der radikalen Marktöffnung in den ersten Jahren der Diktatur waren aber die meisten Un­ter­nehmen schon in den Achtzigern abgewandert oder pleite gegangen, weil mit den Subventionen auch der Standortvorteil weggefallen war. In den Achtzigern und Neunzigern wurden denn auch Teile der Industriebrache zum Wohngebiet umgewidmet. Hier, wo die Stadt an die graubraunen Sandhügel stößt und nichts Grünes mehr gedeiht, entstanden zwischen 1987 und 1996 etappenweise Sozialwohnungen für die ärmsten Ariqueños - in direkter Nachbarschaft zu dem Giftmüll aus Schweden.

Nach Recherchen des Onlinemagazins "El Morrocotudo" sind die Ver­ant­wort­lichen für mehrere Baugenehmigungen heute nicht mehr zu iden­ti­fi­zie­ren. Das hat wohl seine Gründe, denn schon 1994 war dem Serviu, der staatlichen Woh­nungs­bau­be­hörde, die Existenz der Ab­la­ge­run­gen bekannt. Erst 1996 al­ler­dings stellte das regionale Gesundheitsamt offiziell die hohen toxischen Kon­zen­trationen fest und ließ das Material abbaggern. Immer noch lagert es in der Nähe der Stadt, in der es zwar nie regnet, wo aber häufig starker Wind weht, der Sand und sonstige Partikel weiträumig verteilt.

Seitdem haben die Unregelmäßigkeiten nicht aufgehört. Laut "El Mor­ro­co­tudo" wurden nach Bekanntwerden der toxischen Belastung von 5.000 Anwohnern Blutproben genommen, die auf Blei untersucht werden sollten. Beim Instituto de Salud Pública (ISP) in Santiago, das über ent­spre­chen­de Labors verfügt, kamen merkwürdigerweise aber nur 725 Proben an. Zum Ärger der Betroffenen, die sich inzwischen organisiert haben, wurde auch lediglich auf Blei, nicht aber auf Quecksilber, Kadmium oder Arsen getestet. Ein Klage der Anwohner gegen Promel blieb erfolglos. Kurioserweise wurde das Unternehmen von einer Anwältin ver­tre­ten, zu deren Mandanten auch der sozialistische Kon­gress­ab­ge­ord­ne­te Iván Pa­re­des gehört - als auf dem Gift Wohnungen errichtet wurden, war Paredes Bür­ger­meis­ter von Arica.

Eine Fernsehreportage hat in der vergangenen Woche das Thema erstmalig landesweit bekannt gemacht und für frischen Wind im Fall Arica gesorgt. Gleich vier Minister machten sich Hals über Kopf auf den Weg nach Arica, um mit den Anwohnern zu reden und ihnen ihre Unterstützung zu versprechen. He­raus­ge­kommen ist eine Vereinbarung, die allen Betroffenen medizinische Hilfe ge­wäh­ren und die Klärung der Schuldfrage vorantreiben soll. Gesundheitsminister Álvaro Erazo will eine Expertenkommission mit internationaler Unterstützung zu­sam­men­trom­meln, um die Gesundheitsschäden untersuchen zu lassen. "Nach unserem Aktionsplan werden wir in spätestens zwei Monaten Klarheit darüber haben, wie die medizinische Versorgung aussehen wird", so Erazo.

Der Minister will außerdem eine Klage gegen den schwedischen Staat prüfen, wahrscheinlich die Strategie mit den geringsten Er­folgs­aus­sich­ten. Tomás Hirsch von der Humanistischen Partei, im Jahr 2005 Präsidentschaftskandidat der au­ßer­par­la­men­tarischen Linken forderte gestern die Schaffung einer un­ab­hängigen Umwelt-Kontrollinstanz ("Contraloría de Medio Ambiente") auf höchster staatlicher Ebene. Eine Forderung, die er im Zusammenhang mit der Verseuchung in Arica seit zehn Jahren erhebt, bislang ohne jeden Erfolg.

Bildnachweis: (o.) marcosHB auf flickr, (u.) El Morrocotudo


Montag, 10. August 2009

Schokosprech


Si es Bayer, es bueno - dieser Slogan, pardon: Claim strahlt seit vielen Jahren als Leuchtreklame über den Dächern von Santiago. Eine anderes deutsches Un­ter­neh­men, das beträchtlichen Erfolg mit quadratischen Schokoladentafeln hat, wirbt seit kurzem in der U-Bahn und anderswo mit der Eins-zu-eins-Übersetzung ihres in den Siebzigerjahren geprägten deutschen Werbespruchs. Bloß: Drüben ein zacki­ges kleines Gedicht, wird er hüben zum Zungenbrecher. Ob das hängen bleibt?

Samstag, 8. August 2009

Schälomat und Presserette



Zwei Peruanerinnen erobern Südamerika im Team: Die vollhandbetriebene Oran­­gen­­schäl­ma­schi­ne und die ebensowenig elektrische Hebelorangenpresse wer­den in Peru gegossen und zusammengeschraubt, haben aber längst Bolivien er­obert und wurden bereits in Chile gesichtet.

Das Funktionsprinzip lässt sich auf diesem im bolivianischen Cochabamba auf­ge­nommenen Video leicht nachvollziehen. Aber warum müssen die Orangen über­haupt vor dem Pressen geschält werden? Ein Orangenpresser erklärte auf An­fra­ge, die Fruchthälften zerrissen anderenfalls während des Pressvorgangs. Mög­li­cher­weise handelt es sich auch lediglich um eine Hygienemaßnahme.

Wir haben die Maschinen-Kombi nach langer und umständlicher Suche in La Paz ge­kauft und pressen seitdem literweise O-Saft. Das Schönste: Die drei bis vier Me­ter langen Orangenschalenfäden kann man gebündelt unter der Decke auf­hän­gen. Sie aromatisieren beim Trocknen die Raumluft und geben anschließend ei­nen formidablen Ofenanzünder ab.

(Sollte sich jemand über den Soundtrack wundern: Auf der Cancha, dem riesigen Straßenmarkt von Cochabamba, verkaufen fliegende Händler Sprachlern-CDs - und spielen diese zu Demonstrationszwecken auf ihrem Wägelchen ab.)

Donnerstag, 6. August 2009

Großmachtallüren, essbar

Am Donnerstag beging Chile erstmalig den "Tag des Honigs". B.'s Schulklasse war aus diesem Anlass zu einer Veranstaltung des Landwirtschaftsministeriums ein­ge­la­den worden, die Kinder malten Bilder zum Motto Por un Chile más dulce y saludable und bekamen von einem Mitarbeiter im Bienenkostüm kleine gelbe Ho­nig­tütchen zugesteckt. Mit der klebrigen PR will der Staat den chilenischen Ho­nig­verbrauch ankurbeln, der mit 100 Gramm pro Kopf und Jahr im in­ter­na­tio­na­len Vergleich sehr zu wünschen übrig lässt. Ein Neuseeländer, so ist auf der Website von Ministerin Marigen Hornkohl (!) zu lesen, verzehrt im selben Zeit­raum ganze zwei Kilo Bienensekret.

An der Qualität kann es nicht liegen: In Chile wird hervorragender Honig produziert. Vor allem der würzige miel de ulmo, eine Varietät auf Grundlage eines ein­hei­mi­schen, üppig blühenden Laubbaumes, muss keinen Vergleich scheu­en und wird auch exportiert. Allerdings macht der Preis guten Honig für viele Chi­le­nen zum Luxusprodukt. Was im Supermarktregal "Honig" heißt und trotzdem billig ist, wurde mit Industriezucker und anderem minderwertigen Süßkram gestreckt.

Überhaupt werden immer mehr hochwertige Nahrungsmittel in Chile hergestellt und angeboten, allerdings noch in einer viel zu teuren Nische. Die Masse (wir sind da nicht außen vor) konsumiert lecker Weißbrot, bunte Zucker- oder Lightgetränke, billig Grillfleisch, Mayo und was sonst noch der Kalorienzufuhr dient. Aber die Vorstellung, dass es nicht schaden kann, sich gut zu ernähren, dass Produkte ohne Chemie und Geschmacksverstärker besser schmecken und gesünder sind, diese Überzeugung ist stark im Kommen und wurzelt gleichzeitig in der traditionellen chilenischen Küche, die rustikal daherkommt, aber auf gute Zutaten Wert legt und nicht mit der rein fleischbasierten parrillada- und Sandwichkultur verwechselt werden darf.

In Santiago, unweit des Präsidentenpalastes, gibt es einen kleinen, schick de­sign­ten Laden namens "Sabores del Campo". Verkauft werden hier unter sel­bi­gem Markennamen mehrere hundert Produkte aus ländlichen Kleinbetrieben, die mit Förderung durch das staatliche Institut für Landwirtschaftliche Entwicklung (INDAP) Gourmetprodukte aus heimischen Zutaten entwickeln: von hand­ge­press­ten Olivenölen über Konfitüren aus Kaktusfeigen bis hin zu ma­ri­nier­ten pa­ta­go­ni­schen Lammkoteletts. Das Feinschmecker-Potzenzial ist auf je­den Fall vor­han­den, zumal in einem Land, in dem Limonen und Melonen ebenso rei­fen wie Kas­ta­nien, Blaubeeren und Rhabarber. Von den traditionellen land­wirt­schaft­li­chen Ex­port­pro­duk­ten mal ganz abgesehen.

Die - in erster Linie Äpfel, Birnen, Trauben und Wein - machten 2008 schon knapp 20 Prozent aller Exporte aus (Bergbau: 60 Prozent, Forstwirtschaft: 8 Prozent). Erwartet wird in diesem und im kommenden Jahr eine Schrumpfung der Bergbau-Exporte bei weiterem Wachstum der Lebensmittelausfuhren, die dann im Jahr 2010 schon bei 30 Prozent lägen. Grund genug für die Regierung, von Chile als einer potencia alimentaria zu sprechen. Eine echte Ernährungs-Großmacht sieht frei­lich anders aus - und hätte das soeben mit Getöse zusammengebrochene Ge­schäft mit dem Lachs ein wenig verantwortungsvoller betrieben. Seit ein paar Tagen ist übrigens ein vor Ort entwickelter Impfstoff gegen die das Lachs­virus ISA zugelassen, die Industrie verbreitet schon wieder Optimismus. Wenn so weiter­gemacht wird wie bisher, dürfte das nächste Fisch-Desaster aber nicht lange auf sich warten lassen.

SchriftgradMangold, Möhren, Mandarinen: Frisches Obst und Gemüse gibt's in Chile an jeder Ecke.

Mittwoch, 5. August 2009

Chile-Arte

Wieder einmal kommt Arte das Verdienst zu, Chile im deutschen Fernsehen einen Platz einzuräumen. Zwei kürzlich gesendete Reportagen lassen sich zurzeit noch im Netz besichtigen: über das Chiloé-Archipel in der Reihe "Inselträume" (nur noch heute, Donnerstag!) sowie über Gletscher-, Puma- und Einsamkeits-Tou­ris­mus im patagonischen Nationalpark Torres del Paine - unter dem Motto "Die neuen Paradiese". Ansehen schadet nicht.