Samstag, 26. September 2009

Apathische Revolutionäre, abgründige Dienstmädchen

Schade. "Dawson - Isla 10", Miguel Littíns Film über das Konzentrationslager, das Pinochets Junta für hochrangige Politiker der Unidad Popular auf einer patagonischen Insel einrichtete, enttäuscht die Erwartungen. Und die waren hoch, denn noch gibt es nicht viele Filme, die die dramatischen Ereignisse rund um den Putsch von 1973 erzählen. Außerdem ist Littín so etwas wie der Altmeister des chilenischen Films und ein einsamer dazu - zwischen ihm und den vielen Jungfilmern, die heute dank einer vergleichsweise generösen Förderung ein Debüt nach dem anderen abliefern, klafft eine große, leere Lücke.

Leider ist Littín, was Erzähltechniken und Experimentierfreude angeht, auch irgendwo in den Siebzigern hängen geblieben. "Dawson - Isla 10", der auf dem autobiografischen Buch des ehemaligen Häftlings Sergio Bitar beruht, ist ein Film ohne jede Überraschung, eine Aneinanderreihung von Begebenheiten, die Bitar tagebuchartig aufgeschrieben hat, letztlich ein Kostümfilm, dessen Ende man schon vorher kennt. Langeweile im Kino ist da programmiert, auch wenn viele Chilenen es vielleicht als bewegend empfinden, wenn den großen Namen der Unidad Popular (wie José Tohá, Orlando Letelier, Clodomiro Almeyda) auf der Leinwand neues Leben eingehaucht wird.

Littín zeigt sorgfältig komponierte, am Originalort gedrehte Bilder, aber es gelingt ihm nicht im Geringsten, eine realistische Stimmung des Lagerlebens zu zeichnen. Da stecken fünfzig Männer in einer Häftlingsbaracke, die gerade eben noch leidenschaftlich Politik gemacht haben, die man gewaltsam aus einer der dramatischsten Phase der chilenischen Geschichte gerissen hat - aber sie schlurfen apathisch, ja autistisch herum, als verbrächten sie schon Jahre in der Isolation. Nur einmal gibt es Streit um irgendeine Lappalie, und plötzlich stehen sich Sozialisten, Kommunisten und Miristas hasserfüllt gegenüber und raufen wie die Schuljungen. Mit einem derart simplen Dreh werden schnell auch noch die ideologischen Verwerfungen innerhalb der verhinderten Revolutionäre abgehakt.

Absolut erfreulich und sehendswert ist dagegen "La Nana", ein Film von Sebastián Silva, der auf dem Sundance Festival 2009 den Großen Preis der Jury in der Kategorie "World Cinema Dramatic" erhielt. Eine vollkommen verdiente Auszeichnung, denn Silvas psycho- und soziologische Studie setzt neue Maßstäbe des Realismus im chilenischen Film, der traditionell zu Stilisierungen neigt. "La Nana" ("The Maid" auf englisch, obwohl die Bezeichung für die chilenischen Hausmädchen an das englische "Nanny" angelehnt ist) seziert den Alltag einer Hausangestellten, die seit mehr als zwanzig Jahren in einer Familie der chilenischen Upper-Class lebt. Die nana puertas adentro, das Dienstmädchen, das mit den Arbeitgebern im selben Haus wohnt, ist auch heute noch häufig in den besseren Vierteln Santiagos anzutreffen - auch wenn immer weniger Chileninnen und immer mehr Peruanerinnen diesen Job erledigen.

Eine Peruanerin wird dann auch zur Verstärkung ins Haus geholt, als Raquel, die die vier Kinder der Valdés' aufzieht, kocht, wäscht, saugt und den patrones morgens das Frühstück ans Bett bringt, gesundheitliche Probleme bekommt. Sie wird von Depressionen und Migränen geplagt, will aber auf keinen Fall ihre vermeintliche Position als zusätzliches Familienmitglied riskieren, denn ein eigenes Leben, das wird bald klar, hat sie längst nicht mehr. Hinter den alltäglichen Verrichtungen im Haushalt, die Silva minutiös abbildet, tut sich ein Abgrund auf, und das Festivalpublikum in den USA soll ständig damit gerechnet haben, dass die nana zum Pürierstab greift und ein tarantineskes Blutbad anrichtet. Genau das passiert aber nicht, der Film endet so unspektakulär wie anrührend.

Für die Chilenen wirkt dieser Blick auf ein sehr reales gesellschaftliches Phänomen bestürzend authentisch. Das kommt vielleicht auch daher, dass der 30-jährige Silva die "Nana" stark an seine eigene nana angelehnt hat. Auf alle Fälle ein extrem erhellender, aufklärerischer Film, von dessen Art Chile noch viele braucht.

Bilder: Dawson - Isla 10 und Sundance Festival 2009

Freitag, 25. September 2009

Superpapa ante portas

Katholiken alle Länder, aufgehorcht: Chile kann bald einen Weltrekord ver­mel­den - die größte Karol-Wojtyla-Statue aller Zeiten. Errichtet werden soll das 13,5 Meter hohe Ungetüm (7,5 Meter Bronze-Papst, 6 Meter Sockel) ausgerechnet am Rande von Bellavista, dem Künstler- und Bo­he­me­vier­tel von Santiago . Seit die private Initiative vor wenigen Tagen pub­lik wur­de, regt sich freilich allenthalben Protest gegen den superpapa (so der Pub­li­zist Cristián Warnken im Blog des "Mercurio").



Hintergrund des Aufstell-Papstes, der einem anderen religiösen Wahr­zei­chen Santiagos, der Marienstatue auf dem Gipfel des San-Cris­tó­bal-Bergs, Konkurrenz machen wird, ist die Umstrukturierung des Viertels, in dem zwei private Hochschulen ihre Hauptquartiere be­zie­hen werden. Die beiden Universitäten - die Universidad San Sebastián und die Universidad Andrés Bello - sollen zusammen mit der tra­di­tions­rei­chen Jurafakultät der Universidad de Chile, die hier seit vielen Jahr­zehn­ten residiert, rund 7.000 Studenten anlocken und neben dem Bar­rio República ein weiteres Hochschulviertel in der Hauptstadt begründen.

Im städtebaulichen Planungsprozess wurde irgendwann beschlossen, di­rekt gegenüber der Rechtsfakultät ein unterirdisches Parkhaus und oben­drauf eine "Plaza Juan Pablo II" anzulegen. Von einer Statue, ge­schwei­ge denn von einer im Kim-Jong-Il-Maßstab, war damals zu­min­dest nicht öffentlich die Rede. Laut dem Blog "Plataforma Urbana" war der su­per­pa­pa die Idee von Luis Cordero, einem der Gründer der ul­tra­rech­ten UDI und zurzeit Vizerektor der Universidad San Sebastián. Für die Um­set­zung bot sich praktischerweise Corderos Bruder Daniel an, der zu­min­dest handwerklich etwas von Bildhauerei versteht.

Fotos aus der Werkstatt, wo der JPII-Gigant gefertigt wird, lassen äs­the­tisch das Schlimmste befürchten. Der "Mercurio" hat namhafte chi­le­ni­sche Architekten befragt, die sich allesamt - abgesehen von Cristián Boza, der das Gebäude der San Sebastián und den Papstplatz entworfen hat - erschüttert vor soviel Kitsch und Maßlosigkeit abwenden. Von links kommt natürlich fundamentalere Kritik an dieser katholischen Landnahme mitten in der Stadt, deren Urheber bislang noch nicht einmal die Ge­neh­mi­gung des Nationalen Denkmalrats eingeholt haben. Auf Face­book hat eine Gruppe, die gegen die Statue protestiert, in wenigen Ta­gen an die 4.000 Mitglieder vereint - darunter sicherlich viele Jura-Studenten der von Andrés Bello gegründeten Universidad de Chile, einer Hochschule, die sich immer als eine Keimzelle des laizistischen chi­le­ni­schen Staates verstanden hat.

Die Satirezeitschrift The Clinic bearbeitet das Dilemma auf ihre Art und macht Vorschläge, wie man weiteren großen Persönlichkeiten in Chile hul­di­gen könnte, unter anderem:

- Reiterstandbild von Genreal Pinochet (Höhe 100 Meter) auf dem Mahn­mal für den ermordeten UDI-Gründer Jaime Guzmán

- Marmorstatue für Nationaltrainer Marcelo Bielsa (51 Meter) vor dem Na­tio­nal­sta­di­on

- Sphinx mit den Gesichtszügen von Präsidentin Michelle Bachelet (22 Me­ter) auf dem Gelände des früheren Edificio Diego Portales

- Freihandelstatue (540 Meter, aus böhmischem Kristall), aufzustellen an der Bucht von Lota (nach dem Niedergang der Kohleförderung eine der ärms­ten Regionen Chiles), usw.

Montag, 21. September 2009

Eine kleine Schweiz

Wenn einem in Puerto Montt der Himmel auf den Kopf fällt, sprich: der Regen nicht mehr zu ertragen ist, flieht man am besten über die Berge nach Argentinien. Villa La Angostura ist ein bezauberndes Touristennest am Nordufer des Lago Nahuel Huapi, umgeben von Wäldern aus riesigen Coigüe-Bäumen und Andenzypressen. Auf der Quetrihue-Halbinsel, deren Flanken steil in den See abfallen, gibt es einen ganzen Wald aus Arrayanes zu bewundern, Bäume aus der Familie der Myrtengewächse mit einer hauchdünnen, zimtfarbenen Rinde und Früchten, die sich zur Herstellung von Likör eignen.

Wie das weitaus größere Bariloche am Südufer des Nahuel Huapi wurde auch Villa La Angostura im 20. Jahrhundert für den Fremdenverkehr gegründet. Architektonische Anspielungen auf die Schweiz sind gewollt und allgegenwärtig. In den Läden an der Hauptstraße gibt es Wildschweinschinken, Schokolade und Rustikales. Natürlich darf da auch ein Skigebiet nicht fehlen: Mit zehn Sessel- und Schleppliften ist die Infrastruktur auf dem Cerro Bayo im Vergleich zum Cerro Catedral bei Bariloche bescheiden, aber das Panorama - der tiefblaue See und die verschneite Kordillere ringsherum - machen das mehr als wett. Die Regenwolken hängen derweil auf der anderen Seite der Berge.

Freitag, 18. September 2009

Rhythmisches Schlurfen in blauweißrot

Und wieder dieciocho. Vor dem Nationalfeiertag, der für viele Chilenen gleich eine ganze Woche dauert, wird überall blauweißrot geflaggt, in Fenstern und Gärten, an Läden, auf Hochhäusern. Die Kinder haben sich für die Schule verkleidet, J. mit manta und Strohhut vom letzten Jahr, B. mit nagelneuem huaso-Outfit. Sporen wollte er auch noch tragen, aber irgendwo muss Schluss sein. Im Kindergarten wurden auf dem Elektrogrill anticuchos gebraten, und S. musste in ihrer Schule einen nicht enden wollenden cueca-Wettbewerb überstehen.

A propos cueca - mir bot man einen Tanzkurs an, und ich lehnte nicht ab. Etwas chilenischeres als den halb gesprungenen, halb gestampften Balz-Tanz gibt es kaum, da kann es nicht schaden, sich ein wenig auszukennen. Für die Tanzstunden hatte man ein paar Freunde zusammengetrommelt, die sich unter Anleitung eines professionellen Folkloretänzers in einem Second-Hand-Modeladen trafen. Schon bei den ersten Schritten zwischen den Kleiderständern lernte ich: 1. cueca-Tanzen ist gar nicht so dröge, wie ich dachte, sondern - je nachdem, wie man es betreibt - recht sexy. 2. cueca-Tanzen ist so schwierig, weil zu dem anspruchsvollen, synkopierten Rhythmus eine Choregrafie gehört, die genauen Regeln folgt und exakt mit der Musik übereinstimmen muss. 3. Viele Chilenen sind beim cueca-Tanzen genauso unbeholfen wie unsereiner.

Nach ein paar Stunden ging das halbmond-, schleifen- und kreisförmige Schlurfen und Springen schon ganz gut. Nur das obligatorische Taschentuch zum Herumwedeln hatte ich jedesmal vergessen und musste mal mit einer Strickmütze aus dem Ladenbestand, mal mit einem Tempotaschentuch vorlieb nehmen. Eine interessante Variante: wenn im Eifer des Gefechts die (Papier-)Fetzen fliegen.

Diesen Post schreibe ich freilich in Argentinien, wohin wir kurz vor dem Feiertag geflohen sind - nicht vor den vielen Flaggen oder der cueca, sondern vor dem anhaltend schlechten Wetter.

PS: Etwas Nettes zum dieciocho hat sich die Onlineredaktion der "Tercera" ausgedacht: "Audiofotos", sprich mit O-Tönen unterlegte Fotostrecken. Es geht um National-Ikonen wie Papierdrachen, Empanadas, Chamantos und das Rayuela-Spiel. Anklicken lohnt.

Montag, 14. September 2009

Die tägliche Dosis Radio

Die Radiomacher im Kreise diverser Stammgäste, Bild: www.radiozero.cl

Man stelle sich das in Deutschland vor: Jeden Morgen, von Montag bis Freitag, setzen sich drei Menschen um die Mikrophone eines Studios und reden eine Stunde lang drauflos. Einer hat fürs Fernsehen gearbeitet und schreibt jetzt Romane, der andere ist Gründer der Satirezeitschrift "The Clinic", die dritte eine Journalistin, die das Reportagehandwerk von der Pike auf gelernt hat. Politisch könnte man die drei als linksliberal bezeichnen, aber das fällt nicht so ins Gewicht. Das Großartige an diesem Radioformat ist der Drive, den ein Gespräch entwickelt, das sich um alles und nichts dreht, das mal zutiefst ironisch, dann unendlich albern und gleich darauf völlig ernst ist - aber nie gekünstelt. Ein ganz kleines bisschen vielleicht wie die Show Royale, aber doppelt so schnell und mit beiden Füßen im echten Leben.

Das Konzept ist bestechend einfach: Die drei (Rafael Gumucio, Patricio Fernández und Claudia Álamo) lesen sich einfach gegenseitig Schlagzeilen und Nachrichten aus dem Ticker oder der Tagespresse vor - und kom­men­tie­ren das. Vom Vor­schlag der Rech­ten, die Stra­ßen­ge­walt zum Putsch-Jah­res­tag per Aus­gangs­sper­re zu be­kämp­fen, über Silvio Berlusconis Bacchanalien, die Frage, ob große Frauen zu kleinen Männern passen, den Zusammenhang von Geist und Geld in Chile bis zu den Fleischpreisen kurz vor dem Nationalfeiertag. Die drei sprechen auf persönlichste Art und Weise über Sex, Drogen, Alltag, Politik und Kunst - und haben außerdem jeden Tag einen Studiogast, der sich meist ohne Umschweife auf diesen Gesprächsstil einlässt. In den seltensten Fällen sondern die eingeladenen Politiker dann noch Sprechblasen ab. Sie reden frei von der Leber weg, und man merkt sofort, wenn sie plötzlich doch noch glauben, gegen ihre persönliche Überzeugung auf irgendeine Parteilinie einschwenken zu müssen.

Diese meine tägliche Dosis Radio kann sich hier als Podcast anhören, wer des chilenischen Spanisch mächtig ist. Live übertragen wird sie zu einer Tageszeit, die mich gewöhnlich schlafend antrifft. Ich ziehe sie deshalb auf den iPod und höre sie beim Bügeln. Zerknitterte T-Shirts und klamme Bettlaken gehören seitdem in unserem Haushalt der Vergangenheit an.


Freitag, 11. September 2009

Dawson kommt ins Kino

Miguel Littin soll sehr bedauert haben, dass der heutige 11. September, Jah­res­tag des Putsches von 1973, auf einen Freitag fällt. So konnte sein jüngster Film Dawson - Isla 10 nicht an diesem hochsymbolischen Datum anlaufen, denn auch in Chile wird das Kinoprogramm immer donnerstags erneuert. Bereits am Mittwoch freilich trat sich Chiles Politprominenz bei der Vorpremiere auf die Füße - inklusive Präsidentin Michelle Bachelet und ihrem Minister Sergio Bitar, der sich an diesem Abend selbst auf der Leinwand bewundern durfte. Verkörpert wird er in Littíns Film über das Gefangenenlager, das die Militärs für hochrangige Politiker der Unidad Popular auf der patagonischen Dawson-Insel eingerichtet hatten, von Benjamín Vicuña. Eine schlaue Besetzung, denn Vicuña ist der Shooting-Star des chilenischen Films, und so wird "Dawson - Isla 10" trotz des sperrigen historischen Themas vermutlich auch viele junge Menschen in die Säle locken.

Montag, 7. September 2009

Nasse Tage in Santiago

Da fährt man einmal übers Wochenende nach Santiago, eine Stadt mit geschätzt zehn Regentagen im Jahr, und prompt gießt es wie aus Eimern, geschlagene 48 Stunden lang. Ständig muss man Umwege gehen und gazellenhafte Sprünge machen, weil sich auf den nicht für Dauerregen konzipierten Straßen knöcheltiefe Seen bilden. Den Menschen in Santiago macht das wenig aus, für sie ist es eine willkommene Abwechslung - und ein Anlass, endlich wieder Sägemehl zu ver­streuen. In jeder Fleischerei, jeder Apotheke, jedem Kurzwarenladen wird das Zeug eimerweise auf den Boden gekippt, um die von draußen hereingetragene Feuchtigkeit zu binden. Ob das wirklich sinnvoll ist, sei dahingestellt, aber es gibt der Stadt für kurze Zeit etwas Ländliches.

Ganz so harmlos war der Regen am Ende dann doch nicht: Mehrere Menschen kamen am Rand der Hauptstadt durch Schlammlawinen ums Leben. Nach Angaben des Katastrophenschutzes wird dieses durchaus nicht neue Phänomen dadurch verstärkt, dass sich die Schneefallgrenze im Laufe der globalen Erwärmung langsam nach oben verschiebt. Wenn das stimmt, müssten sich die Chilenen darauf einstellen, solche Bilder noch häufiger zu sehen.

Donnerstag, 3. September 2009

Mapuche-Konflikt: Indigene sehen kein Land

Begräbnis des Mapuche-Aktivisten Jaime Mendoza (Bild: dpa)

Über den Konflikt der Mapuche mit dem chilenischen Staat habe ich im Blog bisher noch nichts geschrieben. Zum einen, weil dieser Konflikt hier in Puerto Montt nicht ausgetragen wird, zum anderen, weil das Thema unerhört komplex ist und man sich leicht auf vermintes Gelände begibt. Die Fragen, um die es hier geht - Muss Chile seinen Ureinwohnern im großen Maßstab Land zurückgeben? Sollen sich die Mapuche womöglich autonom verwalten? Und: Wer sind überhaupt die Mapuche? - sind brisant und ideologisch extrem aufgeladen.

Wie schwierig es ist, diesen Konflikt in ein paar Absätzen zu beschreiben, ohne in diverse Fallen zu tappen, zeigt ein jüngst im "Freitag" erschienener Bericht - an dem manches stimmt und manches leider gar nicht. Richtig ist, dass die Landbesetzungen in der Araucanía, dem historischen Haupt-Siedlungsgebiet der Mapuche, in diesem Jahr deutlich zugenommen haben. Allerdings schwelt der Konflikt schon seit Jahren, und seit Jahren kommt es auch immer wieder zu Brandanschlägen oder Baumfällungen auf Ländereien von Forstunternehmen oder privatem Großgrundbesitz. Und nicht erst die Regierung von Michelle Bachelet hat damit begonnen, in der betroffenen Region polizeilich (das heißt in Chile: quasi-militärisch) aufzurüsten. Der am 12. August durch einen Schuss in den Rücken getötete Jaime Mendoza ist bereits das dritte Opfer von Polizeigewalt seit dem Jahr 2002. (Hier und hier ein anschaulicher Abriss der Auseinandersetzungen.)

Andererseits ist auch die Gewalt der Mapuche-Aktivisten real, und es lässt sich nur mit Wunschdenken erklären, wenn der Autor des Artikels nahelegt, der Angriff auf einen voll besetzten Überlandbus - also auf völlig unbeteiligte Menschen - könne "fingiert" sein. Eine Interpretation, von der in Chile nie zu hören war, zumal die radikalste Mapuche-Fraktion, die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM), sich den Anschlag eindeutig zugeschrieben hat. Falsch wiederum ist, dass der Sonderbeauftragte der Regierung, José Antonio Viera-Gallo, vor "Steinwürfen" fliehen musste - da waren die "gewaltbereiten Wilden" eben doch nicht so gewalttätig, wie der Text unterstellt.

A propos "gewalttätige und faule Eingeborene": Dieses rassistische Klischee wurzelt tief in der chilenischen Gesellschaft - aber dass es die Massenmedien heute noch ungehemmt verbreiteten, ist nicht richtig. Richtig ist, dass etwa der "Mercurio" unlängst einen Aufsatz des Historikers Sergio Villalobos druckte, der - auf der Grundlage von Informationen, die zu prüfen wären - behauptet, viele Mapuche hätten ihr Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts ohne Not an chilenische Siedler verkauft. Außerdem handele es sich bei den Mapuche größtenteils um Mestizen, denn die "Frontera", die Grenze, an der die Ureinwohner den spanischen Eroberern Einhalt geboten hatten, sei viel durchlässiger gewesen als landläufig angenommen. Villalobos spart dann auch nicht mit Ideologie: Ja, es habe punktuell gewalttätige Landnahmen gegeben, aber die Mapuche/Mestizen hätten schließlich von ihrer Eingliederung in die chilenische Marktwirtschaft nur profitiert. Glaube das, wer will.

Ganz schwierig wird es bei der Frage, wie der Landkonflikt zu lösen sei - bzw. ob es sich überhaupt nur um einen Konflikt um einzelne Flächen handelt. Fragt man Aucán Huilcamán, den Vorsitzenden des von ihm selbst gegründeten "Consejo de Todas las Tierras", lautet die Antwort seit längerem: autogobierno. Erst wenn sich das Mapuche-Volk selbst regiere - und zwar vom Bío-Bío-Fluss südwärts -, sei die historische Schuld der Chilenen beglichen. Um ein autogobierno finanziell auszustatten, könne der chilenische Staat ja Reparationszahlungen für anderthalb Jahrhunderte Besetzung leisten.

Solche Forderungen sind nicht nur fundamentalistisch, weil sie bewusst ignorieren, dass die meisten Mapuche heute in Santiago leben, während sie selbst in der Araucanía zahlenmäßig in der Minderheit sein dürften. Sie definieren gleichzeitig alle "Chilenen" - zu denen Huilcamán und andere radikale Mapuche-Aktivisten sich niemals zählen würden - im Süden des Landes als Usurpatoren, auch wenn die meisten selbstverständlich weder Ländereien noch Kiefernplantagen besitzen, sondern ganz bescheidene Menschen mit mestizischer Identität sind, die sich auch nicht ausgesucht haben, in welchem Landstrich sie in vierter oder fünfter Generation geboren wurden.

Die Verachtung, mit der manche radikalen Mapuche ihre mestizischen Mitbürger adressieren, ist die hässliche Spiegelung des Mehrheits-Rassismus. Dabei ist alles andere als klar, wer überhaupt Mapuche ist. Nach dem letzten Zensus, bei dem die ethnische Selbstzuordnung abgefragt wurde, leben nur gut 600.000 Mapuche in Chile. Möglicherweise sind es auch mehr - aber welche Kriterien legt man hier an? Die Sprache, das Mapudungun, wird von den urbanen Mapuche kaum noch beherrscht. Praktizierte Kultur? Selbst die Mapuche der ländlichen comunidades, also der Reduktionen, in die man sie verbannt hat, pflegen heute einen weitgehend "westlichen" Lebensstil. Und wer wollte umgekehrt einem abstammungsmäßig "reinen" Mapuche verbieten, sich als Chilene zu fühlen und ein modernes städtisches Leben zu führen, anstatt sich dem - hypothetischen - Diktat einer indigenen Identität zu unterwerfen?

Auf welchen Insitutionen und Verfahrensweisen ein autogobierno überhaupt beruhen sollte, diese Frage wirft etwa José Mariman in einem nicht ganz neuen, aber völlig aktuellen Essay auf: Seiner Überzeugung nach gibt es gar kein traditionelles Modell einer organisierten Mapuche-Gesellschaft, weil diese lediglich aus Familienverbänden bestand, die nur in Ausnahmefällen Zweckbündnisse eingingen. Die comunidades, wie sie in Chile heute existieren, sind dagegen das Ergebnis der Einverleibung der Auraucanía durch den chilenischen Staat. Dennoch ist das idyllische Bild einer Mapuche-Gemeinschaft, die alle Fragen kommunitär löst, weit verbreitet, genauso wie die Projektion vom naturliebenden Indigenen, die gerade bei jungen, urbanen Nicht-Mapuche große Popularität genießt - laut Mariman, Politikwissenschaftler und selbst Mapuche, ein völlig irregeleiteter Mythos vom "edlen Wilden".

All das ändert freilich nichts am Grundproblem: dass die Mapuche in der Araucanía viel zu wenig und dabei schlechtes Land besitzen, und dass sie, genau wie die Mapuche in den Städten, Opfer von Rassismus sind. Die Regierungen der Concertación haben einiges getan - Land verteilt, Förderprogramme aufgelegt -, aber das reicht nicht. Immerhin hat der chilenische Kongress Anfang 2008 die ILO-Konvention 169 über die Rechte indigener Völker ratifiziert, und seit diesem April läuft eine Verfassungsänderung durch die Mühlen des Parlaments, die den pueblos originarios ihren eigenen Status innerhalb einer "unteilbaren, multikulturellen chilenischen Nation" zuerkennen soll. Aktivisten wie Huilcamán ist das natürlich ein Gräuel, für alle anderen vielleicht ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Mittwoch, 2. September 2009

Coming-out per Nachlass



Tú nunca habrías hecho lo que yo hice por tenerte. Pero eso no fue hecho por otra cosa, fue un amor violento de alma y cuerpo. (G. M.)

Yo me pongo en el viento y en la lluvia tierna, para que estos, viento y lluvia, puedan abrazarte y besarte para mí. (D. D.)

Lo subterráneo es lo que no digo. Pero te lo doy cuando te miro y te
toco sin mirarte.
(G. M.)

In Vicuña, dem kleinen Städtchen im Valle de Elqui, wo sie vor 120 Jah­ren geboren wurde, hat man Gabriela Mistral gleich mehrfach in Stein ge­mei­ßelt. Bild und Name der Dichterin, die 1945 den Nobelpreis für Li­te­ra­tur erhielt, zieren aber im ganzen Land die Straßen und Plätze. Un­ter Pi­no­chet, als Chiles zweiter Nobelpreisträger Pablo Neruda kaum noch öf­fent­lich erwähnt werden durfte, wurde Mistrals Konterfei auf den neuen 5.000-Peso-Schein gedruckt - die spießige Unkultur des Regimes wähnte ihr Leitbild eines opferbereiten Patriotismus von der Dichterin re­prä­sen­tiert, die aus ärmlichen Verhältnissen stammte, jahrelang als Lehrerin arbeitete, Gedichte über Kinder schrieb und immer etwas Nonnenhaftes an sich hatte.

Dass die bis zu ihrem Tod unverheiratete Lucila Godoy - so Mistrals bürgerlicher Name - in Wirklichkeit kein asexuelles Wesen war, dessen Liebe lediglich der Literatur galt, diese These darf man spätestens jetzt, mit der Veröffentlichung des Bandes "Niña Errante", zu den Akten legen. Es handelt sich um den Briefwechsel Mistrals mit Doris Dana, ihrer Se­kre­tä­rin und Nachlassverwalterin. Von Liebe ist darin die Rede, von Lei­den­schaft, von Berührungen. Ob die 30 Jahre ältere Gabriela Mistral bis­wei­len das männliche Genus für sich in Anspruch nimmt ("tuyo"), um ein Verhältnis der Dominanz oder aber des "väterlichen Beschützers" aus­zu­drücken, wie Herausgeber Pedro Pablo Zegers glaubt, bleibt den Le­se­rIn­nen überlassen.

Die Chilenin und die US-Amerikanerin hatten sich 1946 kennengelernt und waren bis zu Mistrals Tod 1957 in New York enge Freundinnen. Wie eng, darüber wurde schon länger spekuliert, aber die Dichterin als Lesbe zu bezeichnen, blieb tabuisiert - über alle politischen Fraktionen hinweg. Der Schriftsteller Volodia Teitelboim, der jahrelang Chiles Kom­mu­nis­ti­sche Partei leitete, bezeichnete vor zehn Jahren den Plan, Mistrals Leben auf Basis der Lesben-These zu verfilmen, als "Versuch, das Andenken einer großen Chilenin und Lateinamerikanerin in den Schmutz zu ziehen".

Heute ist man vielleicht ein bisschen weiter. Das Interesse an den Brie­fen aus dem Nachlass, den eine Nichte der 2006 verstorbenen Dana dem chi­le­ni­schen Staat zukommen ließ, ist groß, und es sieht eher so aus, als machten die neu aufgetauchten Dokumente das Bild der Dich­te­rin in den Augen der Chilenen menschlicher, facettenreicher und lie­bens­wer­ter. All jenen, die dagegen jetzt versuchen sollten, das biografische "Detail" herunterzuspielen, hält Rolando Jiménez, Vorsitzender des schwul-les­bi­schen Verbands Movilh, entgegen: "Gabriela Mistral war kei­ne gute Schriftstellerin, weil sie lesbisch war oder nicht. Aber ohne je­den Zweifel wären ihre schriftstellerische Qualität und Sensibilität an­de­re gewesen ohne die von der Gesellschaft verurteilte lesbische Liebe."

Nachtrag 27.09.: Hier noch ein schöner Blogeintrag der Journalistin Carolina Pulido.