Donnerstag, 29. Oktober 2009

Meine Zeit mit Elisa


Uff. Jetzt ist er doch tot, mausetot. Mit Schlafmittel betäubt und dann ein Schuss in den offenen Mund. Dabei wollte Bruno Alberti sich doch zusammen mit Consuelo, seiner Frau, der Polizei stellen. Dumm nur, dass Consuelo ihn im Verdacht hatte, seine Haut als Kronzeuge gegen sie retten zu wollen. Schließlich hatte sie ihre Nichte Elisa erschossen und nicht Bruno, der erst eine Affäre mit der Min­der­jäh­ri­gen anfing und sie dann wochenlang in einem abgelegenen Som­mer­haus gefangen hielt. Gestorben wäre Alberti in dieser Nacht aber allemal, denn sein rachsüchtiger Schwager Raimundo, Elisas Vater, und Nicolás, Raimundos Freund und Geschäftspartner, wollten ihn ebenfalls töten. Letzterer, weil er in Bruno den Mörder seiner Freundin Juanita zu erkennen glaubte, derselben Juanita, mit der Raimundo kurz zuvor seine Frau Francisca betrogen hatte, die dafür eine heimliche Beziehung mit Camilo einging, dem Kriminalkommissar, der schließlich die sterbende Elisa fand.

Kompliziert? Ja, aber nur ein winziger Ausschnitt von "¿Dónde está Elisa?", meiner telenovela. Meiner novela! Als eine von S. Kolleginen im vergangenen Mai nach Deutschland zurückging, hinterließ sie uns ihren Fernseher. Kurz darauf begann mein heroischer Selbstversuch: eine telenovela von Anfang bis Ende durch­zu­ste­hen. Genau genommen habe ich den Anfang verpasst, aber das macht nichts, denn "¿Dónde está Elisa?" hatte bis jetzt um die hundert Folgen. Von Montag bis Donnerstag, pünktlich um 22 Uhr, gab es eine halbe Stunde Intrigen, Leidenschaft, Geheimnisse und Gewalt, zuzüglich Werbepausen. Und einen Plot, der sich, dem Genre entsprechend, wie ein riesiger Kaugummi in die Länge zog. Handlungsstränge, die auf falsche Fährten führten, im Nichts endeten, nach Wochen wieder aufgenomen wurden, Nebendarsteller, die plötzlich autauchten, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Die Frage, wo Elisa wohl sei, war nach der Hälfte schon beantwortet, aber nicht die Frage nach dem Täter und unendlich viele Fragen mehr.

Dass ich trotzdem durch­ge­hal­ten habe, hat mehrere Gründe. Zuallererst eine Por­tion Narzissmus: Wenn man als Ausländer zu verstehen gibt, dass man die derzeit beliebteste novela regelmäßig sieht, wenn man mit Detailwissen und Theorien über die weitere Entwicklung der Handlung aufwarten kann, schlägt einem Un­gläu­big­keit, aber auch Bewunderung entgegen. Vielleicht hat mancher mich auch für verrückt gehalten, aber das war es wert. Denn man kann die novela ja auch auf einer Metaebene als Spiegelbild der Gesellschaft lesen, in die man da eintaucht. Nicht als reales Spiegelbild, sondern als eines, das die kollektive Selbst­wahrnehmung, aber auch Mythen über die eigene Identität repräsentiert. Spä­tes­tens wenn man mit Chilenen die vergangenen Folgen, die Charaktere und die Glaubwürdigkeit der Story analysiert, ist ohne Belang, ob das Ding ein halbindustrielles Erzeugnis zur Schaffung eines erstklassigen Werbeumfelds ist. Sag mir, was du über "Elisa" denkst, und ich weiß schon eine ganze Menge über dich.

Und dann dieser Lindenstraßen-Effekt. "¿Dónde está Elisa?", eine Produktion des staatlichen Senders TVN mit preisgekröntem Drehbuchautor, begabten Schau­spie­lern und experimentierfreudigen Regisseuren, hat ein paar Themen in Um­lauf gebracht, über die man in Deutschland vielleicht lächeln würde - zu Un­recht, denn der erste schwule Kuss in einer deutschen TV-Produktion ist auch noch keine zwanzig Jahre alt. "Elisa" hat nun unter anderem das Verdienst, erstmals Schwule als ganz normale Menschen zu zeigen (auch wenn ihr Leben nur aus Problemen besteht, denn Ignacio, der Ehemann von Olivia, Raimundos Schwester, hat sich nie geoutet und musste sich ausgerechnet in Javier verlieben, Olivias Ex aus Studentenzeiten, der nach einem längeren Aufenthalt in New York als offener gay zurückgekehrt ist). Keine affektierten Tunten mit abgespreizten Fingern, die bislang das offizielle Abbild des gewöhnlichen Homosexuellen im Fernsehen waren, dafür ein Kuss in einer Schwulendisco an Heiligabend. Nicht übel.

Überhaupt kann man Hoffnung haben, dass das relativ neue Genre der telenovela nocturna, der anspruchsvolleren Schwester jener seichten Nachmittagsserien, die längst auch in ARD und ZDF Einzug gehalten haben, irgendwann die Plastikwelt der Schönen und Reichen verlässt, in der sie jetzt noch zuverlässig angesiedelt ist. Das wäre wirklich eine spannende Entwicklung - wenn sich die Chilenen allabendlich selbst zu Gesicht bekämen und nicht nur Menschen wie den "Vorsitzenden eines der bedeutendsten Konzerne des Landes" (die Figur Raimundo laut TVN). Für die novela, die "Elisa" nahtlos ablösen wird, gilt das nicht, es handelt sich um eine Vampirsaga, die im ländlichen Chile des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist. Darin geht es um - klar: Intrigen, Leidenschaft, Geheimnisse und Gewalt. Ich für meinen Teil schalte dann mal ab.

Samstag, 24. Oktober 2009

Feinste Unterschiede

Eigentlich unterscheiden wir uns überhaupt nicht voneinander. Trotz der gewaltigen Entfernung, trotz Sprache und Geschichte und aller weiteren kulturellen Nuancen, die wir nicht teilen, fällt es kaum einem Deutschen schwer, sich in Chile zurechtzufinden. Man isst hier weder Hunde noch Insekten, niemand muss sich das Gesicht verhüllen, und wer den Kopf schüttelt, meint tatsächlich "nein".

Trotzdem stößt man immer wieder mal auf kleinste Differenzen, die signalisieren: Hier tickt dieses Land ein bisschen anders, hier hat sich eine abweichende Kulturtechnik etabliert. Glücklicherweise besitzen diese Dinge nicht genügend Tiefgang, um die gegenseitige Toleranz ernsthaft auf die Probe zu stellen. Kleinere Reibungsverlsute sind dennoch nicht ausgeschlossen.

"Und ich hatte so einen Hunger", stöhnt S., als sie von einer Einladung zum Kuchen bei einer Kollegin zurückkommt. Dass das Gebäck, das dank teutonischer Einwanderung tatsächlich "Kuchen" heißt, selten so schmeckt wie daheim in Deutschland - geschenkt. Rätselhaft für unsereins ist dagegen die Sitte, Gäste eine gefühlte Ewigkeit mit Smalltalk hinzuhalten, obwohl die Kaffeetafel längst gedeckt im Nebenraum wartet. A propos gedeckt: Beim Frühstück oder am Nachmittag steht in Chile die Tasse vorne und der Teller hinten, also weiter weg vom Essenden (wenn statt Tassen Gläser gedeckt sind, etwa auf dem Mittagstisch, ist dagegen alles "normal"). Warum das so ist, konnte uns bislang noch niemand erklären. Vielleicht mögen Chilenen lieber Krümel im Tee als Tropfen auf dem Brötchen?

Auch auffällig bei gegenseitigen Besuchen ist nicht etwa die Unpünktlichkeit (eine Disziplin, in der viele Deutsche inzwischen locker mithalten können), sondern die Sache mit den Schuhen. In Deutschland gehört es mittlerweile fast zum guten Ton, sich gleich hinter der fremden Wohnungstür seiner Treter zu entledigen - oder das zumindest anzubieten. In Chile würde man freiwilliges Schuheausziehen unter der Rubrik "Grober Unfug" verbuchen. Weil Füße eben unangenehm riechen, wie man mir auf Nachfrage kategorisch erklärte. Deshalb traut sich auch niemand, auf einer Nachtfahrt im Überlandbus die Zehen frische Luft schnuppern zu lassen.

Besonders auffällig sind die kleinen Unterschiede im Straßenverkehr. Ein lediglich kurioses Detail: Wer langsamer fahren will als der Hintermann, deutet diesem mit dem Blinker an, er möge doch bitte überholen. Genau wie in Deutschland - nur blinkt man hier links und nicht rechts. Also: "Da sollst du an mir vorbeiziehen" und nicht "Ich bleib hier schön am Rand". Unangenehmer für den Zugewanderten ist die Tatsache, dass man in Chile das Reißverschlussverfahren nicht kennt. Und zwar im Wortsinn: Man kennt das Konzept einfach nicht, dem Verkehrsteilnehmer von der Nebenspur, die etwa an einer Baustelle endet, das Einfädeln zu ermöglichen. Wer zuerst kommt, fährt zuerst. Sollte es daran liegen, dass hohe Verkehrsaufkommen in Chile noch ein recht junges Phänomen sind? Vielleicht muss nur mal jemand den entsprechenden Begriff in Umlauf bringen.

Es gibt noch ein paar solcher Kleinigkeiten. Etwa die Art, mit den Fingern zu zählen. Hier fängt niemand bei "eins" mit dem Daumen an - es gibt die Variante "Vom kleinen Finger aufwärts", die gerne unter Zuhilfenahme der anderen Hand gebraucht wird, sowie eine zweite, komplexere, die mit dem Zeigefinger beginnt. Und (das geht dann doch schon in Richtung "Kopfschütteln") um jemanden heranzuwinken, schaufelt man sich nicht Luft ins Gesicht, sondern streckt die Hand aus, Innenseite nach unten, und macht mit den Fingern eine kratzende Bewegung.

Mir passierte letztens folgendes: Mein Freund Chany, der zurzeit in Santiago bei einem Institut arbeitet, das Methoden der Schul- und Berufsbildung evaluiert, hatte mich gebeten, stellvertretend für ihn auf einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrer in Puerto Montt eine schriftliche Umfrage zu machen. Eigentlich ging es nur darum, Fragebögen zu verteilen und wieder einzusammeln. Das tat ich auch - und verstand nicht, weshalb die Seminarleiterin, eine ältere Dame, so pikiert war. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht.

Nach eingehender Selbstprüfung und Rücksprache mit Santiago fand ich die Lösung. Es war so: Weil man mir den Fragebogen erst kurz vor dem vereinbarten Termin mailte und ich ihn außerdem in großer Zahl kopieren musste, war keine Zeit gewesen, je vier Blätter aneinanderzuheften. Deshalb hatte ich die in einem Konferenzraum versammelten Lehrer gebeten, die vier Stapel durch die Reihen gehen zu lassen und sich jeweils ein Blatt zu nehmen - eine Technik, die man in Deutschland spätestens seit der siebten Klasse beherrscht. Aber hier nicht: "Wir sind da sehr paternalistisch eingestellt", sagt eine chilenische Freundin, "wir erwarten, dass jemand durch den Saal geht und jedem genau das in die Hand drückt, was er braucht."

Deshalb hatte das Verteilen so lange gedauert, hatten manche Teilnehmer so verwirrt gewirkt, hatte ich die Seminarleiterin dabei beobachtet, wie sie, leise fluchend, Blätter austeilte und immer wieder fragte, wem noch dieses oder jenes fehle. Mein Verhalten dagegen war - aus ihrer Sicht - leicht unverschämt: Platzt in die Veranstaltung und lässt andere seine Zettel austeilen. Glücklicherweise beinhaltete der Arbeitsauftrag noch ein längeres mündliches Interview mit mehreren Lehrern, was auch hervorragend funktionierte. Wenn man drüber spricht, geht eben alles.

Freitag, 23. Oktober 2009

Wetter aktuell

Endlich hat der Neid ein Ende.

Freitag, 16. Oktober 2009

Musikalische Momente


Gemein wäre es, Eduardo Gatti als One-Hit-Wonder zu bezeichnen, weil kaum jemand ein anderes Lied von ihm kennt als "Los Momentos". Schließlich ist Gatti seit den Sechzigerjahren und bis heute musikalisch aktiv, seinerzeit als Mitglied der legendären Blops, einer 1970 gegründeten Progrock-Exklave der Nueva Canción Chilena.

Die melancholischen "Momentos" aber trällern chilenische Jugendliche noch heute an jedem Lagerfeuer. Mit einer Coverversion neu belebt haben den Song Philippe Boisier (Icalma) und Daniel Riveros AKA Gepe, zwei Vertreter der jungen Musikszene Santiagos, die irgendwo auf dem weiten Feld zwischen Elektromusik und Neofolklore herumexperimentieren. Sie haben "Los Momentos" für den Sound­track von "Turistas" eingespielt, den zweiten Spielfilm von Alicia Scher­son, der gerade auf dem Filmfest Hamburg zu sehen war und heute in Chile angelaufen ist.

Donnerstag, 15. Oktober 2009

Auffrischungsarbeiten

In Puerto Montt stehen die Zeichen auf Frühjahrsputz. Im November legen die ers­ten Kreuzfahrtschiffe an, und auch wenn die Stadt den Touristen aus USA und Europa nicht viel zu bieten hat - aufgeräumt soll's wenigstens sein. Hier und da wird an Dächern und Fassaden das Makeup aufgefrischt, und auch die gelben Straßenränder zieht ein städtisches Expertenteam nach. Der bunte Straßen-Strich erfüllt in Chile einen simplen Zweck: Er markiert auf die einfachste und dabei of­fen­sichtlichste Weise ein Parkverbot. Dass die Spritzmaschine mal ein bisschen da­ne­ben­kleckert, damit muss man leben. Hauptsache, die Farbe ist trocken, wenn die Besucher kommen.

¡Santo Ya!

Mit dem heutigen 1:0 gegen Ecuador hat sich die bereits für die WM-Teil­nahme qualifizierte chilenische Nationalmannschaft noch einen run­den Abschluss der eliminatorias gegönnt. Auf Platz zwei der Liste hat sich die Roja hochgearbeitet, nur ein hauchdünner Punkt trennt sie von den Brasilianern. Nach zwölf Jahren endlich wieder vom Weltmeistertitel träumen! Natürlich wird jetzt gefeiert.


Einer, der nach Ansicht vieler Chilenen ein gerüttelt Maß an Ver­ant­wor­tung für diesen Erfolg trägt, ist Trainer Marcelo Bielsa. Dieser Ta­ge dürfte sich der Argentinier kaum auf die Straße wagen: Man würde ihm am liebsten ununterbrochen die Füße küssen dafür, eine junge Mannschaft ohne Stars wie Marcelo Salas oder Iván Zamorano mit liebevoller Strenge und bedingungsloser Hingabe an den Fußball zu einem Team aufgebaut zu haben, das verblüffend gut funktioniert. So groß ist die Hingabe des rosarino, wie ihn die Presse nach seiner Heimatstadt Rosario gerne nennt, dass man ihn seit August 2007, als er die selección von Nelson Acosta übernahm, ausschließlich im Trainingsanzug gesehen hat.

Jetzt hatten ein paar Fußballfanatiker die hübsche Idee, den Loco Bielsa, so sein eigentlicher Spitzname, gebührend zu ehren: Sie wollen ihn vom Vatikan zu Chiles Fußballheiligem erheben lassen. Aber das geht be­kann­termaßen nicht so ohne weiteres, sondern nur unter Vorlage von min­destens drei Wundern. Eines - die Qualifizierung - ist ja schon voll­bracht. Wenn nun (Nr. 2) Chile die Vorrunde übersteht und an­schlie­ßend (Nr. 3) die Weltmeisterschaft für sich entscheidet, kann eigentlich auch der Papst nichts mehr gegen die Kanonisierung vorbringen.

Aber wenn die Latte so hoch liegt, hat Marcelo Bielsa eigentlich doch nichts zu befürchten. Aber schön gemacht ist die Seite, auf der die einfachen Ballgläubigen ihrem Idol eine Kerze im Halbdunkel entzünden und ein paar Worte des Dankes - gracias por favor concedido - widmen können. Die ganz reale Gesetzesinitiative einiger Abgeordneter, mit der Bielsa im Eilverfahren die chilenischen Staats­bürgerschaft verliehen werden sollte, wurde von ihren Autoren gestern klein­laut wieder zu­rück­gezogen - zu viele Kollegen hatten für derartigen Op­por­tu­nismus nur Spott übrig gehabt.

Freitag, 9. Oktober 2009

Zeit der Überraschungen

Der chilenische Wahlkampf läuft inzwischen auf Hochtouren und bringt manche Überraschung mit sich. Etwa die, dass nach einhelliger Meinung der meisten Be­ob­ach­ter Jorge Arrate, der Kandidat der außerparlamentarischen Linken, die erste Fern­seh­de­bat­te der verbliebenen vier Kandidaten eindeutig für sich entschieden hat. Das wird dem silberhaarigen Ex-Sozialisten zwar nicht in den Prä­si­den­ten­pa­last verhelfen - die besten Umfragewerte für ihn liegen bei vier Prozent der Stimmen -, aber der linken Sache schadet es gewiss nicht. Arrate, der von den Kommunisten und den "allendistischen" Sozialisten unterstützt wird, punktete mit sicherem, entspanntem und humorvollem Auftreten, aber auch mit glasklaren Aussagen zum größten Skandalon im Chile von heute: der abgrundtiefen sozialen Ungleichheit, die allen löblichen Gesundheits- und Rentenreformen zum Trotz das Land spaltet.



Im Mittelfeld bewegten sich Marco Enríquez-Ominami, der Querschläger aus den Reihen der Sozialistischen Partei, dessen jugendlich-rebellisches Image unter dem stark reglementierten TV-Format litt, und Ex-Präsident Eduardo Frei, Kandidat der regierenden Concertación, bei dem man nicht genau weiß, ob man seinen Habitus als empathiearm oder cool bezeichnen soll. Vermutlich wüsste er es selbst nicht.

Aus Sicht der Zuschauer klarer Verlierer war hingegen Sebastián Piñera, der für die rechte Alianza por Chile Präsident werden und das rechte Trauma überwinden will, seit 50 Jahren keine Wahl mehr gewonnen zu haben. "Sebastián Piñera, Presidente 2010-2014" steht über seiner Kampagnenwebsite, aber so sicher kann er sich des Erfolgs nicht sein, allen Abnutzungserscheinungen der Concertación zum Trotz. Piñera war schlecht gekleidet, drosch Phrasen und zeigte Nerven. Letzteres hatte auch damit zu tun, dass Transparency International am selben Tag seinen "Global Corruption Report 2009" vorgestellt hatte, und er selbst, also Piñera, im von Chile Transparente (CT) verfassten Länderkapitel namentlich auftauchte - als Unternehmer, der 2006 ein dickes Aktienpaket der Flug­ge­sell­schaft LAN möglicherweise auf der Grundlage von Insiderinformationen gekauft hat.

Frei schmierte das seinem Konkurrenten ungerührt aufs Brot - direkt vor dem Werbeblock. Der Geschmähte konnte sich erst viel später verteidigen, und auch das gelang ihm nur mit Mühe. Für Chile Transparente hatte die Geschichte freilich ein Nachspiel: Piñera schoss in den Folgetagen aus allen Rohren zurück, und der Vorstand von CT entschied schließlich nach einer Sondersitzung, sich von den Aussagen des eigenen Berichts teilweise zu distanzieren. Begründung: Für den Text seien allein dessen Autoren verantwortlich. Alles in allem ein eher undurchsichtiger Vorgang und insofern kein Ruhmesblatt für die NGO.

Inzwischen hat sich Sebastián Piñera freilich als wahrer Erbe des Widerstands gegen Pinochet geoutet. In einem Video auf seinem Youtube-Kanal be­glück­wünsch­te er sich und seine Mitbürger zu 21 Jahren "No" - am 5. Oktober 1988 war Pinochet daran gescheitert, sich per Plebiszit acht weitere Jahre an der Macht zu halten. Richtig ist, dass Piñera aus einer zutiefst christdemokratischen Familie kommt, genauer: Sein Vater José war einer der Gründer der chilenischen Christdemokraten. Richtig ist auch, dass Sebastián damals offen bekannte, gegen die Fortführung der "Militärregierung" zu stimmen. Dennoch ist die Verklärung seiner Vergangenheit, die der Kandidat der Rechten betreibt, doppelt absurd. Links von ihm nimmt sie ihm keiner ab, rechts von ihm (wo noch viel Raum bis zum Ende des Spektrums ist), rümpft man die Nase.

Vollends absurd wird es, wenn Piñera als Beweis seiner Affinität zum "No" ein wenige Sekunden langes Video zeigt, auf dem er am Rande einer Demonstration zu sehen ist. Um was für eine Demo es sich genau handelt, erfährt man nicht, auch nicht, warum der junge Mann sich entgegen den anderen De­mons­tra­tions­teil­nehmern bewegt, und schon gar nicht, warum er ein so gänzlich un­op­po­si­tio­nel­les Outfit zur Schau trägt (weißes Hemd und Blouson, Kurz­haar­schnitt und Sonnenbrille). So liefen damals doch Spitzel herum, sagen alle unisono, und auch wenn man das Piñera nicht unterstellen möchte - vielleicht ist es ein Augenzwinkern in Richtung seiner rechten Unterstützer, die subtile Andeutung, seine Rolle könnte damals ja, rein theoretisch natürlich, eine ganz andere gewesen sein? Wer weiß.


Sonntag, 4. Oktober 2009

Cantora

Als in diesem Jahr der zweite Teil ihres Doppelalbums "Cantora" he­raus­kam, ging es der gestern verstorbenen Mercedes Sosa ge­sund­heit­lich schon lange nicht mehr gut. Vielleicht war ihr bewusst, dass die 35 Studioaufnahmen ihre letzten sein würden. Jeden Titel hat sie ge­mein­sam mit einem oder mehreren befreundeten Künstlern produziert - ein Tribut an die jüngeren Generationen und gleich­zei­tig deren Lie­bes­er­klä­rung an die große Sängerin aus Tucumán.

Deren letzte Version von Silvio Rodríguez' Lied "La Maza" ist (nach dem Original) vielleicht die beste. Sosa singt zusammen mit Shakira: zwei denk­bar ungleiche Frauen, zwei Stimmen, zwischen denen hörbar Jahr­zehn­te liegen - eine Kombination, die Gänsehaut macht.

Donnerstag, 1. Oktober 2009

Dumm gebohrt


Das Geysirfeld El Tatio in der Atacamawüste ist von lunarer Schönheit. Aus vielen kleinen Kratern brodelt oder schießt heißes Wasser in die Höhe. Manche Geysire sind ständig aktiv, manche unregelmäßig, andere brechen mit großer Pünktlichkeit im Abstand von wenigen Minuten aus. Seit zwei Wochen hat die auf über 4.000 Metern gelegene Touristenattraktion etwas ganz Spektakuläres im Angebot: eine 60 Meter hohe und an der Austrittsstelle zwei Meter breite Dampffontäne.

So richtig froh ist freilich niemand über den Riesen, denn der erzeugt viel Krach und lässt die übrigen Geysire versiegen. Und er ist menschengemacht: Die Dampfsäule tritt aus einer Probebohrung des Unternehmens Geotérmica del Norte (GDN) aus, an dem vor allem der italienische Energiekonzern ENEL und die staatliche chilenische Ölfördergesellschaft ENAP beteiligt sind. GDN experimentiert seit Ende 2008 trotz aller Proteste von Umweltaktivisten und Bewohnern der Atacama in unmittelbarer Nähe des Geysirfeldes herum. Geplant ist die Errichtung eines Geothermiekraftwerks, das rund 40 Megawatt erzeugen soll.

Auch wenn die Verantwortlichen für das ökologische und touristische Desaster dessen Tragweite kleinreden - die öffentliche Akzeptanz geht inzwischen gegen Null. Der Consejo de Pueblos Atacameños, in dem die indigenen Bewohner der umgebenden Dörfer organisiert sind, will rechtliche Schritte gegen das Unternehmen einleiten. Der Rat der Ureinwohner spricht von einem "Attentat auf das Leben", Flora und Fauna des einzigartigen Ökosystems seien gefährdet.

Am Donnerstag hat die regionale Umweltkommission (Corema) die sofortige und unbefristete Einstellung der Probebohrungen gefordert. Die GDN soll bis Mitte Oktober eine Lösung für das von ihr geschaffene Problem präsentieren.

Flavia Liberona, Direktorin der Umweltstiftung Fundación Terram, lässt selbstredend kein gutes Haar an dem Projekt und seinen dampfenden Kol­la­te­ral­schä­den - vor denen nicht wenige vergeblich gewarnt hatten. Natürlich hat sie Recht. Problematisch ist allerdings, wenn sie betont, alle zuständigen Behörden ließen sich "für nur 40 MW" Leistung kleinkriegen. Denn normalerweise kritisieren Organisationen wie Terram oder Greenpeace Chile genau das Gegenteil, nämlich Megaprojekte wie die geplanten Staudämme in Patagonien. Da wird dann gerne argumentiert, Chiles Energiebedarf müsse durch viele kleine, dezentrale Projekte gedeckt werden. Auch wenn sich das Tatio-Debakel nicht rechtfertigen lässt - man muss seine eigenen strategischen Aussagen auch ernst nehmen.

Hier noch ein paar Tatio-Bilder aus dem eigenen Fundus:



Foto oben: http://www.flickr.com/photos/efrei/ / CC BY 2.0