Dienstag, 14. April 2009

Pogrom

Fotos: Diario El Llanquihue

Über die gitanos wollte ich schon längst etwas geschrieben haben. Nur ein paar Kilometer von unserem Haus entfernt haben sie ihre Zelte aufgeschlagen. Im letzten Sommer waren es sechs oder sieben, in diesem zwischenzeitlich an die zwanzig, zuletzt nur noch vier. Es sind große, quadratische Hauszelte, bunt gestreift und im oberen Teil mit Sternen oder Monden verziert. Sie stehen auf einem unbebauten, vermüllten Gelände direkt an einer viel befahrenen Kreuzung, dazwischen Pickups und Kleinlaster, spielende Kinder. Eine echte Nomadensiedlung.

Ich schreibe gitanos, weil hier alle gitanos sagen (offenbar auch sie selber), und weil das Wort keinen so negativen Klang hat wie "Zigeuner". Es ist nicht ganz leicht, über sie zu schreiben, zum einen, weil man sie zwar ständig sieht, aber trotzdem wenig über sie weiß, zum anderen, weil man schnell in den Verdacht gerät zu diskriminieren. Die einzigen Begegnungen mit den gitanos sind für gewöhnlich, wenn die Frauen und Mädchen in der Stadt betteln. Eine Art zu betteln, die man gemeinhin als "aggressiv" bezeichnet.

Die Summe aller beiläufigen Beobachtungen könnte lauten: Die chilenischen gitanos bewohnen in jeglicher Hinsicht eine Parallelwelt - und sie haben nicht die Absicht, diese zu verlassen. Genau das - Lebensweisen zu akzeptieren, die nicht oder kaum in die unsere integrierbar sind, weil sie nach einem anderen Prinzip funktionieren - ist ja die größte Herausforderung für jede Antidiskriminierungspolitik. Hier schien das Nebeneinander irgendwie zu funktionieren. Bis Karfreitag.

Auf der anderen Straßenseite des gitano-Lagers befindet sich die población Antonio Varas Norte, vermutlich eine der ärmsten Siedlungen der Stadt und auch eine mit der höchsten Kriminalität. Drogengeschäfte werden hier gemacht, sagt man. Vor einem guten Monat wurde hier ein junger Mann überfahren, der Täter beging Fahrerflucht. In der población ging schon bald das Gerücht um, die gitanos seien Schuld, und an Karfreitag wollte jemand gesehen haben, wie sie das mutmaßliche Tatfahrzeug, einen weißen Pickup, in einem ihrer Zelte versteckten.

Weiße Pickups sind hier freilich Legion (auch wir fahren einen), und nach Angaben der Polizei gibt es bereits deutliche Verdachtsmomente, die mit den gitanos überhaupt nichts zu tun haben. Aber die sind schon gar nicht mehr da: geflohen vor einem Mob aus der benachbarten Siedlung, der sie angriff und mehrere Autos sowie ein Zelt anzündete. Die Feuerwehr wurde an ihrer Arbeit gehindert, schließlich kam die Polizei (die, so die Bewohner des Armenviertels, sich nie für ihre Probleme interessiert hat) und löschte mit dem Wasserwerfer.

Die Politik hat reagiert. Präsidentin Michelle Bachelet, in deren Regierungsprogramm das "Ende jeglicher Form von Diskriminierung" angekündigt wird, will die von dem Pogrom betroffenen Familien empfangen, alle nationalen und regionalen Funktionsträger haben das Geschehene scharf verurteilt, zwei Jugendliche, die mutmaßlich die Brandsätze warfen, wurden verhaftet.

Liest man die zahlreichen Kommentare in Onlinezeitungen oder auf Youtube, kann man einigermaßen beruhigt sein. Offenbar stoßen rassistische Ausschreitungen bei den meisten Chilenen auf einhellige Ablehnung. Und dann erschreckt umgekehrt die Attitüde, mit der manche den Spieß umdrehen: Als "Dealergesindel" und "Proletenpack" werden die pobladores der Antonio Varas Norte beschimpft. Der Tote sei vermutlich sowieso nicht Opfer eines Unfalls, sondern des Angriffs einer rivalisierenden Bande geworden.

Das ganze macht ziemlich ratlos. Eine persönliche Erkenntnis ist freilich mal wieder die, dass Armut nur selten Güte und Solidarität erzeugt (wie ich vor meinem ersten Chile-Einsatz vor zwanzig Jahren noch glaubte), sondern weitaus häufiger Neid, Hass und Gewalt. Deswegen muss man sie ja auch so dringend bekämpfen.


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