Sonntag, 12. April 2009

Chilenisch für Anfänger (3): Spielen

Auch wenn Chilenen ganze Gespräche mit der Vokabel huevón und deren Ableitungen bestreiten können: Ihr Erfindungsreichtum ist enorm. Das chilenische Spanisch strotzt vor modismos – Redewendungen oder Begriffen, die schon im lateinamerikanischen Ausland kaum jemand versteht. Der umgangssprachliche Jargon erneuert sich ständig, meist werden Ausdrücke in Santiago geprägt und verbreiten sich dann schnell über die gesamte Länge des Landes. Einen Chilenen, der das Land nach dem Putsch 1973 in Richtung Europa oder Nordamerika verlassen hat, um zwei oder drei Jahrzehnte später zurückzukehren, erkennen die Daheimgebliebenen spätestens nach zwei Sätzen am Vokabular.

So muss man als Chile-Fan nach ein paar Jahren der Abwesenheit zuallererst seinen Wortschatz updaten. Was um Himmels Willen ist beispielsweise ein flaite? Das Wort ist in aller Munde. Forscht man nach, erfährt man gleichzeitig auch etwas über gesellschaftliche Entwicklungen. Ein flaite, so viel steht inzwischen fest, ist - salopp forumliert - ein Prolet auf Drogen. Es gibt auch den roto, den klassischen Typus der chilenischen Unterschicht, arm, aber nicht auf den Mund gefallen und grundsympathisch. Der
flaite hingegen ist eine parasitäre Existenz, ein meist junger Mensch ohne Perspektive, der sich das Hirn längst mit dem Kokain-Abfallprodukt pasta base zu Matsch geraucht hat , raubt und billigen regueton hört. Aber woher kommt das Wort? Es handelt sich um eine Pseudoübertragung des Aus­drucks volao ins Englische. Ein volao ist einer, der unter Drogeneinfluss quasi abhebt (von volar, fliegen). Aber wieso englisch? Chilenen verstehen die Nachfrage nicht ganz: Warum denn nicht? Man sagt ja auch tincar (von think, hier: beabsichtigen), cachar (von catch, hier: begreifen) oder chutear (von shoot, hier: den Ball schießen).

Im Internet kursieren unendlich lange modismo-Listen, die natürlich auch unendlich viel Unanständiges beinhalten. Eine ganz spezifische Variante eher harmloser Redewendungen, die ständig neu erfunden werden, sind die más...que- Konstruktionen. Es handelt sich um Vergleiche, die ihren absurden Witz oft daraus schöpfen, dass sie sich auf das Bezugswort, nicht aber auf dessen Sinn im Kontext beziehen. Disculpa el atraso, kann etwa jemand sein Zuspätkommen entschuldigen, es que me perdí y me di más vueltas que pollo asado. Soll heißen, der Betreffende hat sich verfahren und musste sich deshalb öfter drehen (hier wäre die kontextuelle Bedeutung: mehr Runden drehen) als ein Grillhähnchen.

Oft speisen sich diese Vergleiche auch aus genauen (aber nicht weniger absurden) lebensweltlichen oder gar anatomischen Beobachtungen. Ese huevón es más flojo que la mandíbula de arriba will sagen: Der Typ ist noch fauler als der Oberkiefer. Wieso ist der Oberkiefer faul? Ach stimmt ja, die Arbeit macht nur der untere Teil des Gebisses. Ist jemand más asustado que pez en semana santa, heißt das: Er hat mehr Angst als ein Fisch zu Ostern. Weil zum Osterfest hierzulande immer Fisch oder Meeresfrüchte auf den Tisch kommen. Neueren Datums ist so etwas: Esa tipa es más callada que cajera de peaje. Die so bezeichnete Frau ist extrem wortkarg - schlimmer als eine Kassierin von der Autobahn-Maut. Autofahrer verstehen das sofort.

Mit einer ähnlich gelagerten Redewendung brachte mich letztens mein Freund Chany ins Grübeln. Er pfeife finanziell auf dem letzten Loch, gestand er mir: No me alcanza ni pa' hacer cantar a un ciego. Sein Budget reiche noch nicht mal aus, um einen Blinden zum Singen zu bewegen. Einen Blinden? Zum Singen? Meint er die blinden Sänger, die in jeder chilenischen Stadt Boleros und andere Schnulzen am Straßenrand trällern? Die singen doch stundenlang am Stück? Ach so – wenn's noch nicht mal dafür reicht, muss es schon sehr, sehr wenig sein.

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