Montag, 29. Juni 2009

Vatertag


Der Chilene, das hat eine Umfrage der Zeitung La Tercera ergeben, will kein Macho mehr sein. Hier ein paar Zahlen:

76 Prozent der befragten Männer finden nicht, dass Hausarbeit reine Frauensache ist (schon einmal gebügelt hat aber nur die Hälfte),
74 Prozent sind der Ansicht, dass Verhütung und Familienplanung auch den Mann etwas angehen,
69 Prozent meinen, dass eine verheiratete Frau durchaus auch Männer als Freunde haben darf,
aber nur 14 Prozent würden behaupten, dass eine Frau ihrem Ehemann nie widersprechen darf.

Sicher: Da ist noch mehr drin.

Aufschlussreich ist die Befragung in Bezug auf die sozioökonomische Verteilung der Einstellungen. Je wohlhabender (und jünger), desto liberaler, je ärmer (und älter), desto konservativer sind Chiles Männer in Sachen Ge­schlech­ter­ge­rech­tigkeit. Aber das dürfte auch anderswo so sein.

An der Montessori-Schule, die B. und J. besuchen, bewegen wir uns ver­gleichs­wei­se auf extrem liberalem und politisch progressivem Terrain. Trotzdem wird der día del padre nicht nur hier gebührend gefeiert, es gibt landesweit denselben Bohei wie um den Muttertag, was natürlich auch aufs Konto des Einzelhandels geht.

Mir haben die beiden Söhne weder einen Werkzeugkasten noch ein Grillbesteck geschenkt, dafür Basteleien und unvergessliche Augenblicke. J. hat bunt an­ge­mal­te Farfalle-Nudeln um ein Foto von sich geklebt (eine auch in Berliner Kitas ver­brei­tete Technik), Stullen geschmiert und ein Gedicht in der Gruppe aufgesagt. B.s Klasse hat, ihrem Alter entsprechend, ein anspruchsvolleres Programm auf die Beine gestellt.

Gekommen sind praktisch alle Väter, auf Arbeit ist gerade Mittagspause. Die Mütter am Muttertag waren schon um 11 Uhr vormittags eingeladen. Nacheinander tragen die Jungen und Mädchen Gedichte und Lieder vor, die mit großem Applaus quittiert werden. B.s Gedicht lautet auszugsweise so:

Papacito lindo de mi corazón,
soy el doble tuyo
y tu eres mi orgullo
y me llenas de amor.

Dann werden die Geschenke überreicht: Die Kinder haben in den vergangenen Tagen eifrig Skulpturen aus Pappmaschee gebastelt, welche die Vorlieben oder Hobbys der Väter symbolisieren. Francos Vater ist Polizist (und in Uniform erschienen), er bekommt ein großes "U", das für einen populären Fußballverein steht. Sofías Vater trägt Glatze und Piercing, er bekommt etwas Quadratisches mit der Aufschrift "Pink Floyd" ("Eigentlich höre ich ja Rammstein, aber Sofía wusste wohl nicht, wie man das schreibt", sagt er anschließend). Es gibt Gitarren, die aussehen wie Tennissschläger, und umgekehrt. Ich bekomme einen Teller mit Essen, natürlich auch aus Pappe.

Den krönenden Abschluss bildet ein Playbackkonzert. Franco macht den Sänger, Inti den Gitarristen, Alonso hält den Bass, ein paar andere sind die Rhyth­mus­gruppe. B. steht am Keyboard. Gespielt wird "Que nadie se entere", eine Cumbia der Gruppe "La Noche", die in den vergangenen Sommern einige Hits und bei der letzten Teletón einen großen Auftritt hatte. Das Lied stammt vom Album "Amor entre sábanas" (Liebe zwischen Bettlaken) und geht so:

Nadie nunca se enterará
en ese cuarto de hotel
que nos amamos los dos
juntos al amanecer.

Y no le digas jamás
a tu hombre ni a mi mujer
que el mundo no entenderá
que nos deseamos (...)

Una otra y otra vez
que nadie se entere
a escondidas devorarnos de placer.

Una otra y otra vez
que nadie se entere
nuestra reunión será un secreto dulce miel.

Benjamin trällert es jetzt immer beim Autofahren. Verstanden hat er es natürlich von allen Beteiligten am wenigsten. Immerhin - das abschließend zum Thema machismo - beschreibt der Song eine einvernehmliche, sprich: gleichberechtigte Sexualhandlung, sprich: Seitensprung.

Freitag, 26. Juni 2009

Klassenfahrt nach Washington

Chilenen im Ausland sind drollig. Ständig schießen sie Be­weis­fo­tos, die den Daheimgebliebenen zeigen, was sie von der großen wei­ten Welt ge­se­hen haben. Vor allem aber müssen sie selbst mit drauf sein, gerne in der Gruppe, in allerlei komischen Posen oder mit der zum Victory-V ge­form­ten Hand - so ist es in Chile Brauch.

Immerhin die Hände unten gelassen haben die Pressevertreter in der De­le­ga­tion von Präsidentin Michelle Bachelet, die am Dienstag eine halb­stün­dige Audienz bei ihrem Amtskollegen Barack Obama bekam. Im An­schluss outeten sich die Berichterstatter als hoffnungslose Oba­ma-Fans und überredeten ihn mit Schmeicheleien ("You must come to Chile. Everybody loves you there") und rationalen Argumenten ("We travelled such a long way") zu einem Gruppenfoto im Rosengarten des Weißen Hauses. Wie eine aufgekratzte Schulklasse drängelten sie sich um den Präsidenten, die eigene Würdenträgerin vergaßen sie dabei fast.

Zuhause waren natürlich alle neidisch auf die tollen Bilder und schrieben Böses über die verwischte Grenze zwischen Berichterstattung und Fan­dom. Auch ein paar Blogschreiber in der US-Hauptstadt fanden die Dis­tanz­lo­sig­keit der Chilenen befremdlich. Dabei ist sie doch ein treues Ab­bild der Obama-Manie, die in Chile immer noch herrscht: Der so sichtbar andere Präsident ist nicht weniger populär, als es einst Michael Jackson war - für den sich die Nach­rich­ten­mo­de­ratorin des Staats­fern­se­hens gestern Abend ganz in schwarz gehüllt hatte.

Ein wenig untergegangen ist bei der Foto-Affäre, dass Obama kurz zuvor eine ganze Menge Hoffnungen enttäuscht hatte: Nach dem Tête-à-tête mit Bachelet hatte er einem chilenischen Journalisten außerplanmäßig eine Frage gestattet, die dann etwas schwer verdaulich ausfiel: Ob er, Obama, sich für die Mitwirkung der CIA an der Vorbereitung des Putschs von 1973 entschuldigen werde. Die knappe Antwort: "Die Vereinigten Staaten haben immer für das Gute gekämpft. Ich denke, den einen oder anderen Fehler haben wir dabei begangen", so der Liebling der Presse. "Aber mir geht es darum, voranzukommen und nicht zu­rück­zu­schau­en."


Bild anklicken! (Quelle: La Tercera)

Dienstag, 23. Juni 2009

Ein Tier mit zehn Saiten

Auf Freddy Torrealba hat Benjamin Kiersch, Ko-Blogger im taz-Latinorama, im Rahmen einer Konzertkritik hingewiesen. Dabei fiel mir ein, dass ich dem charangista schon einmal 1990 begegnet war. Schon damals spielte er virtuos. Das hat er offenbar in den vergangenen Jahrzehnten ausgebaut:



Torrealba, Sohn einer armen Schaustellerfamilie und Autodidakt, tritt heute als Solist und in verschiedenen Ensembles auf. Wahrscheinlich spielt niemand den charango so gut und so schnell wie er. Wer schon einmal auf dem kleinen zehnsaitigen Instrument herumgezupft hat, weiß wie fingerfertig man sein muss, um dem winzigen Ding saubere Klänge zu entlocken. Es ist so klein, weil man für den Resonanzkörper einen Gürteltierpanzer verwendete. Professionelle Spieler verwenden längst keine Gürteltier-charangos mehr - Holz klingt einfach besser.

Sonntag, 21. Juni 2009

Kollektives Schaukeln

Eines Abends kam der Messias, völlig unerwartet, wie es sich in solchen Fällen wohl gehört. Er kam im Radio, aber das Radio steckte in einem Auto, genauer: in einem colectivo. Das machte es so besonders.

Colectivos sind Sammeltaxis, kleine schwarze Limousinen japanischer oder koreanischer Marke, die ein beleuchtetes Schild auf dem Dach tragen. Es gibt hunderte davon in jeder chilenischen Stadt. Am seltensten sieht man sie heute in Santiago, wo der Transantiago-Verbund sie etwas an den Rand gedrängt hat. In Puerto Montt dagegen sind sie als öffentliches Verkehrsmittel neben den röhrenden Bussen nicht wegzudenken. Auf jahre- oder jahrzehntelang eingeschliffenen Strecken kreisen sie durch die Stadt wie auf unsichtbaren Schienen. Man steigt ein, wo man will, zahlt einen moderaten Festpreis - zurzeit umgerechnet 50 Cent - und verlässt das colectivo an fast jeder beliebigen Straßenecke.

Colectivo fahren ist unendlich praktisch. Es ist kaum teurer als der Bus, fährt aber in viel kürzeren Abständen und kommt dabei schneller ans Ziel. Im Prinzip handelt es sich um eine kommerzialisierte Form der Fahrgemeinschaft. Man kann den Fahrer abends auch bitten, einen kleinen Schlenker einzubauen, um bis vor die Haustüre gebracht zu werden, im schlimmsten Fall kostet das ein paar Pesos extra. Erreicht man die Straße, auf der das colectivo verkehrt, zu spät, kann sich aber durch Winkzeichen oder einen Pfiff bemerkbar machen, wartet es schon mal eine halbe Minute. Frühmorgens oder nachts ist das von großem Vorteil.

Die Fahrt im colectivo ist bequemer als im Bus, sorgloser als im eigenen Auto, und im Gegensatz zu einer Taxifahrt muss man nie ein Gespräch mit dem Fahrer führen. Der kümmert sich um den Verkehr, manchmal auch fernmündlich um familiäre Angelegenheiten. Zwischendurch muss er - mit einer Hand und manchmal akrobatischen Verrenkungen - Geld annehmen und herausgeben. Das geschieht immer während der Fahrt; trotzdem habe ich noch nie ein colectivo in einen Unfall verwickelt gesehen. Manche colectiveros haben ihr Armaturenbrett zu einem Altar des schlechten Geschmacks hergerichtet, da baumeln und nicken Plüschtiere zwischen Fußballschals und religiösem Schnickschnack. Stören tut's nicht.

Ein colectivo befördert vier erwachsene Passagiere. Werden Kleinkinder auf dem Schoß mitgeführt, kann sich die Gesamtzahl der Personen im Auto auf bis zu acht erhöhen (vorne ist Kindesmitnahme verboten). Besonders begehrt ist der Beifahrersitz. Ist der besetzt, aber die Rückbank noch frei, hat man auch gute Karten, dann kann man, wenn sich der Wagen weiter füllt, nach ganz links rutschen, die Augen schließen und seinem Ziel entgegendösen. Aus irgendeinem Grund sind colectivos immer ganz weich gefedert. Weich ist es auch für den, der die Mittelposition im Fond erwischt; wenn links und rechts normalgewichtige Menschen Platz nehmen, reist man nicht nur auf Tuch-, sondern auf Kör­per­fühlung. Das kann, muss aber nicht unangenehm sein. Am schlechtesten ist dran, wer rechts an der Tür sitzt: Er muss am häufigsten Platz machen, wenn andere aussteigen wollen.

Der Soundtrack einer colectivo-Fahrt besteht aus Cumbias und Boleros, Reggaeton oder Heavy Metal. Letztens bestieg ich ein colectivo an einem reg­ne­rischen Abend, und im Radio lief Händels Messias: "Comfort Ye, my People". Zu diesen Klängen durch die dunkle, nasse Stadt zu gleiten war ein wunderbares und - wie erwähnt - unerwartetes Erlebnis.

Samstag, 20. Juni 2009

Tanz das Chile

Am 12. Juni hat die Compagnie von Pina Bausch das jüngste Stück der 68-Jährigen im Opernhaus Wuppertal uraufgeführt. Wie bei Bausch üblich ist es noch namenlos, aber es verweist auf die Erfahrungen der Truppe in Chile, wo sie im vergangenen Februar auf Einladung des Goethe-Instituts beim Theaterfestivals Santiago A Mil mit "Körper" gastierte. Wie man hört, reisten Bausch und ihre Tänzer anschließend durchs ganze Land, von der Atacama-Wüste bis Chiloé, um Impressionen für die kommende Arbeit einzufangen.

Aber wie viel Chile steckt in Ein Stück von Pina Bausch (so der Ar­beits­titel)? Den ersten Rezensionen nach zu schließen, eher wenig - aber ganz genau weiß das nur das Auge des Betrachters:

Es muss sehr heiß gewesen sein in Chile, wo Pina Bauschs neues Stück entstand. Und knochentrocken war's wohl auch - so trocken, dass der weiße (Bühnen-)Boden Risse und gefährliche Spalten bekommt. (Ruhr Nachrichten)

Eben erst hatte man noch ein Sternbild gelegt, dann bricht – per Video – Wasser über die Bühne und die Menschen herein. Eben erst wurden noch Äpfel und Bananen verteilt, dann schleppen die Männer die Frauen an Haut und Haaren herbei und treiben sie auf der Bühne zusammen. Sind das Bilder aus dem persönlichen Erlebnisbereich? Bilder von der Reise nach Chile? Oder Anspielungen auf die dunkle Geschichte des Landes? (NZZ)

Gleich die erste Szene führt zurück in die politische Vergangenheit Chi­les. Eine Frau kniet auf allen Vieren. Zwei Männer heben sie an. Sie be­ginnt zu schreien. Das wiederholt sich mehrfach. Eine andere wird über einer Stange hängend getragen. Andeutung von Folter? (...) Unmerklich erst, dann sichtbar, reißt der Boden auf. Wie auf Eisschollen wird wei­ter­ge­tanzt. Ein verstörendes Bild, mit der der Kölner Bühnenbildner Pe­ter Pabst wohl auf die bis heute zerrissene Gesellschaft Chiles ver­wei­sen will. (Kölnische Rundschau)

Das Große Chile-Erdbeben von 1960 jedenfalls zeigt Pina Bausch nicht gerade. Einmal lässt sie ein wenig mit Kartoffeln werfen, aber vorsichtig, einmal halten die Tänzer offene Weinflaschen schräg über ihre Köpfe, aber kein Tropfen wird vergossen. Die noch titellose Szenenfolge ist nicht besonders chilespezifisch. (Frankfurter Rundschau)

(...) erklingen Lieder von Violeta Parra und Victor Jara, Ikonen der Nueva Canción Chilena. Jara wurde 1973 nach dem Putsch Pinochets gegen Allende verhaftet, gefoltert und ermordet. Der Name Victor wird leise aufgerufen in der dunkelsten Szene, als der Opfer der Militärdiktatur gedacht wird. Dominique Merci und die anderen Männer des Ensembles legen sich in einer Reihe zu Boden, jeder zieht sich eine raue Decke erst über den Körper, dann über den Kopf. Sie scheint endlos zu sein, die Kette der Toten. (Der Tagesspiegel)

Nur in Spurenelementen sind diesmal die Bezüge zum Ko­pro­duk­tions­land – sonst reich sprudelnde Bilder- und Assoziations-Quel­le – nach­weis­bar: Eindeutig lediglich beim komischen Kurzbesuch einer mit Al­pa­ca-Mützchen und Poncho ausgestatteten Figur, die einige Au­gen­blicke auf einem Stuhl sitzt und mit Befremden dem pulsierenden tän­ze­ri­schen Treiben auf der Bühne zuschaut. (nachtkritik.de)

Auch das Rauchen einer Zigarette und das reichliche Wasser-Trinken sind alte Pina Bausch-Topoi. Doch bekommen sie hier und jetzt einen neuen Sinn. Der Rauch steigt auf wie aus einem chilenischen Vulkan, und das reichliche Trinken, oft aus unmöglichen Lagen und unter selt­sa­men Verrenkungen, wird in der trockensten Wüste der Welt zur Über­le­bens-Not­wendigkeit (...) ein großes Thema oder auch nur ein roter Faden fehlt; der eine oder andere Hinweis auf karge Lebensumstände, vielleicht sogar Pinochets Schreckensherrschaft, bleibt allzu blass. (Die Welt)

Noch Genaueres weiß nur Pina Bausch.

Donnerstag, 18. Juni 2009

Bussi tot

Hortensia Bussi Soto, "La Tencha", ist tot. Die Witwe des 1973 von den Mi­li­tärs gestürzten Präsidenten Salvador Allende starb ges­tern Nach­mit­tag im Al­ter von 94 Jahren in Santiago.

Die Geschichtslehrerin und Bibliothekarin hatte Allende 1940 geheiratet. Im September 1973, nachdem sich ihr Mann im Moneda-Palast das Le­ben genommen hatte, musste sie ihn auf Befehl der Militärjunta unter Aus­schluss der Öffentlichkeit, streng bewacht und nur im Beisein eines Nef­fen in Valparaíso beerdigen. 17 Jahre später, nach Chiles Rückkehr zur Demokratie und Bussis Rückkehr aus dem Exil, beerdigte sie ihn erneut, diesmal auf dem Zentralfriedhof von Santiago, mit staatlichen Eh­ren und unter der Anteilnahme vieler Zehntausender. Dort wird nun auch sie am Samstag beigesetzt werden.

In diesem Beitrag von CNN Chile äußert sich Jacques Chonchol, Landwirtschaftsminister unter Allende, über die einstige Primera Dama.

Montag, 15. Juni 2009

Wege zum Radfahren

Als ich 1991 zum ersten Mal auf einem Fahrrad durch Santiago de Chile fuhr, war es reine Glücksache, dass ich mein Ziel lebendig erreichte. Nicht nur war das Rad kaum verkehrstüchtig - die Autofahrer nahmen nicht die geringste Rücksicht auf Nichtmotorisierte. Ent­spre­chend oft be­geg­nete man anderen Radlern: praktisch nie.

Knapp zwanzig Jahre später ist das Radfahren immer noch kein Mas­sen­phä­nomen, aber trotzdem hat sich, zumindest in Santiago, eine Menge ge­tan. Zu­sam­men mit den zarten Ansätzen einer zweiradgerechten Infrastruktur ist auch ein neues Bewusstsein für die Vorzüge des Fahrrads gewachsen, das früher, wenn überhaupt, als Arme-Leute-Verkehrsmittel galt. Jetzt bekommt es langsam das Image, das es verdient: billig, sauber, gesund - und im Berufsverkehr dem Auto oft überlegen. Ihr Verdienst daran haben Vereine wie Bicicultura, die für eine fahrradfreundliche Gesetzgebung kämpfen, Radfestivals organisieren und das Leitbild einer ciudad ciclable (also einer fahrradgerechten Stadt) propagieren. Noch kann man hier von Berliner Zuständen nur träumen, aber die Richtung stimmt.

In anderer Hinsicht ist es sogar möglich, auf die "Fahrradstadt Berlin" mit leichtem Stolz herabzublicken: Seit ein paar Jahren ist das Projekt CicloRecreoVía im Entstehen. Dabei handelt es sich um die allsonntägliche Sperrung von mehreren zentralen Straßenkilometern pro Stadtbezirk, auf denen dann von morgens 9 Uhr bis nachmittags 14 Uhr Menschen Rad fahren, skaten, joggen oder einfach nur spazieren gehen können. Das Angebot wird bereits in zwei Bezirken mit der Unterstüzung Freiwilliger realisiert, weitere drei Bezirke sollen bald folgen. Wenn sich die Hoffnungen der Organisatoren erfüllen, steht am Ende irgendwann ein stadtumspannendes Netz aus "Rad-Erholungs-Wegen".

Ausgedacht haben sich das allerdings nicht die Chilenen. In der ko­lum­bia­ni­schen Haupt­stadt Bo­go­tá werden seit Mitte der Neunziger jeden Sonntag rund 120 Ki­lo­me­ter innerstädtische Straße abgesperrt. Hier eine kleine Doku über die Ci­clo­vía von Bogotá:



Nichts gegen die alljährliche Sternfahrt - aber wann kommt die allwöchentliche Berliner ciclovía?

MEO macht Ernst

Nach fast zwanzig Jahren Mitgliedschaft in der Sozialistischen Partei Chiles hat Marco Enríquez-Ominami seinen Austritt in aller Öffentlichkeit vollzogen. Auf dem Weg zu einer unabhängigen Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tur musste der 35-Jährige, der mit seinen phä­no­me­na­len Um­fra­ge­wer­ten das stabile Gefüge aus Regierung und Oppo­si­tion auf­mischt, diesen Schritt tun. Er wird es aber auch nicht son­der­lich bereut haben, denn in den vergangenen Monaten schlug ihm aus der Führungsetage der Partei nur noch offener Hass entgegen. Umgekehrt denken viele Genossen, die sich an seiner Seite sehen, laut über einen massenhaften Austritt nach.





In seiner auf Youtube geposteten Erklärung zerschneidet Enríquez-Ominami das Tischtuch noch ein wenig mehr: Zwanzig Jahre nach Beginn der transición, dem paktierten Hinübergleiten von der Diktatur zur Demokratie, spreche nichts mehr dafür, an der Koalition von damals festzuhalten. Die regierende Concertación ist personell und konzeptionell verbraucht, überholt, fertig, so die Lesart des jungen Rebellen - eine Interpretation, die er mit sehr vielen Chilenen aller Lager teilt. Enríquez-Ominami wirft den Regierenden vor, an liebgewonnenen Privilegien zu hängen, sich den Staat angeeignet zu haben, ein politisches Kartell mit den immer gleichen Namen zu bilden. Damit müsse endlich Schluss sein.

So viel Aufmüpfigkeit zieht, immer noch: Laut einer der letzten Umfragen käme "MEO" in einer ersten Wahlrunde auf ein besseres Ergebnis als der offizielle Kandidat der Concertación, Ex-Präsident Eduardo Frei Ruiz-Tag­le. Dabei ist Enríquez-Ominami noch nicht einmal zur Wahl zu­ge­las­sen - noch fehlen ihm gut 20.000 von erforderlichen 36.000 Un­ter­schrif­ten, die vor einem Notar geleistet werden müssen. Selbst man­che Unterstützer zweifeln daran, dass ihr Kandidat diese Hürde bis Mitte September nimmt - er selbst nennt sie "seine ganz persönlichen primarias". (Mehr hier.)

Während Frei praktisch täglich dementiert, dass das "Phänomen Marco" ihm Sorgen bereitet, muss sich Jorge Arrate, der Kandidat des linken Oppositonsbündnisses Juntos Podemos, langsam Gedanken machen, wie auch er ein bisschen ins Gespräch kommt. Enríquez' Abschied von den Sozialisten, den er selbst erst vor ein paar Monaten vollzogen hat, begrüßte Arrate. Wenn aber sein junger Mitbewerber um die Prä­si­dent­schaft den Ruf des Juntos Podemos nach einer Ver­fas­sungs­gebenden Versammlung nicht teile und auch seine wirtschafts- und so­zial­po­li­ti­schen Ideen im Vagen blieben, bleibe sein Auftritt "nichts wei­ter als der jugendliche, moderne Anstrich eines konservativen und an­ti­de­mo­kra­ti­schen Schemas - eine Art Neo-Concertación".

Montag, 8. Juni 2009

Die große Schmelze



Ein reitimiento oder reite (sprich: re-ï-te) ist ein traditionelles Schlachtfest auf Chiloé. Das Wort ist eine Ableitung des spanischen derretimiento, was soviel wie "Schmelzen" bedeutet. Geschmolzen wird hier ausschließlich Schweinefett. Vegetariern und zart besaiteten Menschen bietet ein reite alptraumhafte Szenen: vom Abflämmen der Schweineborsten über offenem Feuer bis zum öffentlichen Ausnehmen des leicht angegarten Schweines. Ob die Schlachtung selbst auch öffentlich ist, weiß ich nicht - sollte es so sein, haben wir sie glücklicherweise verpasst.

Mit gesunder Ernährung hat das Essen auf einem reite natürlich nichts zu tun. Auf dem yoco- bzw. lloco-Teller landen alle möglichen gekochten und gebratenen Fleischstücke, nebst in Schmalz gebackenen Teigringen (roscas) und milcaos, fettigen, dicken Kartoffelpuffern mit Speckeinlage. Gespült wird mit Rotwein. Lecker ist die chochoca: Eine Kartoffelmasse, halb roh, halb gekocht, wird auf eine lange Holzrolle aufgebracht und über der Glut gedreht, bis die Oberfläche gold­braun und ein bisschen knusprig ist. Nach dem Abnehmen wird die große, wei­che Kartoffelmatte in breite Streifen geschnitten und mit dem würzigen Bo­den­satz aus den Schmalztiegeln getränkt. Danach möchte man ganz lange gar nichts mehr essen.

Samstag, 6. Juni 2009

Auf die Insel

Chiloé, rund um Ancud, Anfang Juni.

Freitag, 5. Juni 2009

Vergleichsweise daneben

Estoy pato heißt auf Chilenisch so viel wie "ich bin blank". Was ein akuter Mangel an Liquidität mit einer Ente (pato) zu tun hat, kann niemand genau erklären, aber die BancoEstado, eine staatliche Bank mit Sparkassencharakter, warb vor ein paar Jahren im klammen Monat März mit einem Fernsehspot für Konsumkredite, in dem tausende niedliche Entchen durch das Zentrum von Santiago wackelten. Damit konnten sich die chronisch unterfinanzierten Chilenen nur zu gut identifizieren - die Kampagne war ein voller Erfolg.

Seitdem hat sich die Ente zum zentralen Werbe- und Sympathieträger für die BancoEstado gemausert - das heißt, gemausert hat sie sich eben nicht, sie ist immer noch klein und gelb, wie frisch geschlüpft. In einer langen Reihe populärer TV-Spots tritt sie in den verschiedensten Zusammenhängen computeranimiert auf, meistens in einem bekannten historischen Kontext, dem sie eine absurde Wendung gibt.

Erstaunlicherweise hat sich die katholische Kirche noch über keinen der Spots beschwert, in denen das Tierchen an der Krippe von Betlehem steht ("Ganz der Vater", so sein Kommentar), Adam und Eva ein Fertighaus zu günstigen Konditionen anpreist oder als Moses den Israeliten statt Gesetzestafeln Kreditkarten präsentiert.



Bitter beschwert haben sich dagegen rechte Parlamentarier, als das Entchen auf der "Esmeralda" auftauchte, dem chilenischen Schlachtschiff, das 1879 von den Peruanern in der Bucht von Iquique versenkt wurde und dessen Kommandant Arturo Prat - so will es zumindest die Legende - in Todesverachtung auf das feindliche Schiff sprang, wo er recht bald sein Leben ließ. Prat dient dem chilenischen Staat bis heute als Nationalheld Nummer eins, und die Abgeordneten empfanden es als "unerhörte Respektlosigkeit", dass da im entscheidenden Moment eine kleine gelbe Ente auf der Reling sitzt, die den Admiral fragt: ¿Está seguro? (damals ging es um eine Versicherung).



Nie vollständig ausgetrahlt wurde auch ein Spot, der den Film "300" persifliert. Die Ente erscheint lediglich am Ende, um mit der Stimme von Augusto Pinochet ein Estamos en guerra, señores herauszuquetschen.



Ob die Verantwortlichen kalte Füße bekamen, weil sie Kritik von rechts, von links oder von beiden Seiten befürchteten, ist nicht bekannt, aber der ironische Verweis - also der gesamte Entenauftritt - wurde herausgeschnitten und ist lediglich auf Youtube zu sehen.

Historische Vergleiche sind überhaupt en vogue in Chile, auch wenn das bisweilen, wie im folgenden Fall, gar nicht mehr lustig ist: Bei ihrem jüngsten Staatsbesuch in den Niederlanden hatte Präsidentin Michelle Bachelet das Anne-Frank-Haus in Amsterdam besucht und im Rahmen eines Gesprächs auf ihren eigenen Aufenthalt im Folterzentrum "Villa Grimaldi" Bezug genommen, wo sie als junge Frau nach dem Putsch für mehrere Wochen festgehalten und misshandelt wurde.

Der Vorsitzende der rechten Partei Renovación Nacional, Carlos Larraín, warf Bachelet prompt vor, mit ihrer persönlichen Geschichte hausieren zu gehen - ganz so schlecht sei es ihr ja offensichtlich nicht ergangen, sonst wäre sie jetzt nicht Präsidentin. Später verschärfte er seine Kritik noch, mit einem mehr als gewagten Meta-Vergleich: Die Parallele, die Bachelet angeblich zwischen sich und Anne Frank gezogen habe, suggeriere, dass die Juden am Holocaust selbst schuld seien - denn die chilenische Linke habe die Gewalt der Militärs ja bekanntermaßen durch ihre Politik selbst entfesselt. Auf sowas muss man erst mal kommen.

Donnerstag, 4. Juni 2009

Schwer vergrippt

Die nächsten Ferien stehen eigentlich erst im Juli an - aber in Puerto Montt geht zurzeit kaum ein Kind in die Schule. Das hat unterschiedliche Gründe: An den öffentlichen Schulen Chiles streiken seit vorletzter Woche die Lehrer, um eine von der Regierung in Aussicht gestellte, aber nie ausgezahlte Sonderzulage einzufordern. Noch ist keine Einigung ist in Sicht. Die vielen privaten Einrichtungen betrifft das nicht - dennoch sind viele mindestens bis kommende Woche geschlossen. Wegen Schweinegrippe.

Tatsächlich verbreitet sich das Virus in Chile so schnell wie in kaum einem anderen Land, und am schnellsten greift es in Puerto Montt um sich. Warum das so ist, stellt für die Gesundheitsbehörden ein Rätsel dar. Wahrscheinlich hat es viel mit dem feuchtkalten Wetter zu tun, das hier unten jeden Winter für generalisierte Atemwegsbeschwerden und Gliederschmerzen sorgt. Heute gibt es in der Stadt knapp 40 bestätigte Fälle von influenza humana, ziemlich genau so viele wie in ganz Deutschland. In Chile bewegt sich die Zahl auf die 400 zu, Dunkelziffer unbekannt. Dabei war überhaupt erst vor drei Wochen der erste Ansteckungsfall in Santiago bekannt geworden.

Am vergangenen Sonntag hat die Grippe auch ihr erstes chilenisches Opfer gefordert: Im Krankenhaus von Puerto Montt starb ein 37-jähriger Klempner. Wie es so weit kommen konnte, ist nicht ganz klar. Die Ärzte vertreten die Ansicht, dass der Patient erst vorstellig wurde, als es praktisch schon zu spät war, die Angehörigen machen die schlechte und schleppende Versorgung in der öffentlichen Einrichtung dafür verantwortlich.

Wegen der regionalen Häufung will auch Gesundheitsminister Álvaro Erazo in den kommenden Tagen mit einem Expertenteam nach Puerto Montt kommen. Er sollte sich in Acht nehmen: Seine erste Beamtin vor Ort, die Direktorin des regionalen Gesundheitsdienstes, hat sich, wie heute bekannt wurde, ebenfalls mit Influenza A-H1N1 angesteckt. Am Montag will die Ärztin aber schon wieder zur Arbeit erscheinen. Dann soll auch der Unterricht an vielen Privatschulen weitergehen, der in dieser Woche eingestellt wurde, um einer weiteren Ausbreitung des Virus vorzubeugen.

Die Atemmasken sind jetzt tatsächlich ausverkauft.