Sonntag, 30. November 2008

Der Eine-Milliarde-Peso-Mann

Am Ende hat die Teletón noch mehr Spenden eingenommen als veranschlagt - natürlich. Die Übererfüllung des ehrgeizigen Spendenziels gehört zum Spektakel, nur einmal in dreißig Jahren hat es nicht geklappt.

Neben unzähligen anderen Vertretern der farándula (in etwa das, was man auf deutsch als "Promi-Szene" bezeichnen müsste) erschien auch ein Mann auf der Bühne im voll besetzten Estadio Nacional, dessen Erscheinungsbild sich krass vom durchschnittlichen Chilenen, aber ebenso vom distinguierten Auftreten der Reichen und Einflussreichen abhebt. Reich ist Leonardo Farkas auch, aber der 41-jährige Unternehmer trägt auf dem Kopf eine blondgelockte Fußballermähne spazieren (ricitos de oro, "Goldlöckchen", nennt ihn die Regenbogenpresse), bindet sich rosa Krawatten um den Hals und dicke Uhren ums Handgelenk. Dieser Mann nun spendete den bislang höchsten Einzelbetrag bei einer Teletón: eine Milliarde Pesos, ungefähr 1,2 Millionen Euro.



Farkas ist ein bizarrer Paradiesvogel, ein Mann, dessen politische Einstellung niemand genau kennt, der aber erwägt, bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr anzutreten, und der als candidato 2.0 auf Facebook bereits 150.000 Unterstützer zählt. Vor zwei Jahren kannte ihn noch niemand.

Farkas stammt aus einer Familie mit ungarisch-jüdischen Wurzeln, wurde im Norden Chiles geboren, wuchs in Santiago auf und studierte Betriebswirtschaft, ging aber in den Achtzigern nach Las Vegas, wo er als Show-­Mu­siker reüssierte:



Zu Beginn des neuen Jahrtausends kehrte er nach Chile zurück, um die Geschäfte seines verstorbenen Vaters zu übernehmen, in erster Linie das Berg­bau­unternehmen Minera Santa Fe, das bei Copiapó Eisenerz fördert. Wie es scheint, mit einigem Erfolg, denn Farkas hat 365 Tage im Jahr die Spendierhosen an. Der "Unternehmer und Philanthrop" (so die Webseite seines Unternehmens) ist berühmt für die anständigen Löhne, die er zahlt, aber auch seine opulenten Trinkgelder und Geldgeschenke auf offener Straße. Aus der Sicht vieler Chilenen ist er damit der "gute Unternehmer" oder der "gute Reiche", im Gegensatz etwa zu Sebastián Piñera, dem aussichtsreichen Kandidaten
der rechten Opposition, der fraglos noch mehr Geld hat, es aber auch besser zu­sam­men­hält.

Auf dem Flughafen von Santiago gab es vor kurzem eine Rangelei, weil Farkas bei seiner Ankunft aus dem Ausland willkürlich Geldscheine in der Menge verteilte. Offenbar möchte der Mann geliebt werden, und mit seiner Teletón-Aktion ist er auf dem richtigen Weg. Se siente, se siente, Farkas presidente, soll das Stadion unisono gebrüllt haben: "Farkas for president" auf chilenisch. Die Milliarde, die ihm nicht sonderlich weh tun dürfte, war also schon mal gut investiert.

Donnerstag, 27. November 2008

Sie wollen Geld


Tu Gutes und rede darüber? Tu Gutes und mach daraus eine gigantische Show! Dieses Wochenende ist Teletón in Chile.


Seit Wochen ist das Land in Aufruhr. Seit Wochen sammeln Familien, Schulklassen, Firmenbelegschaften, Fußballvereine Geld für das größte Benefizereignis des Jahres. Am Samstag werden all ihre Beiträge mit großem Brimborium addiert, zusammen mit Großspenden von Unternehmen und Mäzenen, Opposition und Regierung, vor allem aber den Kleinstspenden hunderttausender Chilenen, die ihre Pesos in eine der aus diesem Anlass 24 Stunden geöffneten Filialen der Banco de Chile tragen. Auch B. hat im Rahmen einer schulinternen Sammelaktion 1.000 Pesos in den großen Topf der guten Tat getan.


Die Teletón Chile gibt es seit 1978, ins Leben gerufen hat sie der TV-Showman Mario Kreutzberger, der als "Don Francisco" nicht nur jedem Chilenen, sondern den meisten Lateinamerikanern ein Begriff ist. Die Idee stammt freilich aus den USA, erfunden hat den Spenden-Marathon der Comedian Jerry Lewis. In Chile ging es am Anfang nur darum, die in finanzielle Nöte geratene Gesellschaft zur Versorgung körperbehinderter Kinder zu retten. Nach dem riesigen Erfolg der ersten Jahre beschloss man, die Teletón alljährlich durchzuführen, mit immer größerem Show-Aufwand und immer höheren Spendenzielen. Dieses Mal geht es darum, die Summe von exakt 13.255.231.970 chilenischen Pesos zu toppen – das entspricht etwa 15,5 Millionen Euro.


Das Geld fließt in die Teletón-Stiftung, die damit bislang 10 Reha-Zentren für körperbehinderte Kinder betreibt. Deren Konzept ist vorbildlich: Betreut wird grundsätzlich jedes Kind, das Bedarf hat, einkommensschwache Familien sind von Zuzahlungen ausgenommen. Die Kinder werden ambulant therapiert, unter Einbeziehung von Eltern und Geschwistern. Die Zentren bemühen sich außerdem darum, "ihren" Kindern den Unterricht an der Regelschule zu ermöglichen, was politisch erwünscht ist, in der Praxis aber oft an den Widerständen des Schulpersonals scheitert.


Ein weiterer Verdienst des alljährlichen Teletón-Trubels ist es, Behinderte in der Gesellschaft sichtbar und solidarische Hilfe selbstverständlich zu machen. Angesichts dessen kann man locker über die üblichen Manipulationsstrategien hinwegsehen – die allüberall plakatierten Kindergesichter, die immer dankbar lächeln, die süßlichen TV-Spots, das Gesülze von "Don Francisco".


Eine tolle Sache also, diese 27 horas de amor. Kann man aber auch anders sehen.


"Ich persönlich", schreibt mir ein Freund aus Santiago, "halte die Teletón für eine riesige Image-Waschanlage, von der alle profitieren: Politiker, Unternehmer und Unternehmen, Marken, die Fernsehfuzzis usw. Ein exzellentes Geschäft, das Mario Kreutzberger auch dazu dient, seine Machtposition in den Medien zu verteidigen - genauso wie das Wirtschaftssystem, das uns die Diktatur beschert hat. Wie viele andere dachte ich, dass dieses als Solidaritätskampagne verkleidete Festival der Eitelkeiten mit der Rückkehr zur Demokratie ein Ende hätte, und dass der Staat die Finanzierung der Stiftung übernehmen würde (wie es sich gehört), aber dafür war das Geschäft eben zu einträglich."


Ein Kritikpunkt, den viele teilen: Die "Partnerunternehmen" machen mit der guten Sache ein gutes Geschäft. Konkret sieht das so aus: Dreißig Unternehmen vom Speiseölhersteller bis zur Fluglinie werben auf ihren Produkten für die Teletón – und die Teletón wirbt für sie. Weil die Firmen sich verpflichten, einen gewichtigen Betrag an das Hilfswerk zu spenden, sorgen die Kunden dafür, dass die entsprechenden Produkte verstärkt konsumiert werden. Das funktioniert - nur wie viel Mehreinnahmen es tatsächlich in die Firmenkassen spült, erfährt man nicht. Aber man ahnt, welch unschätzbaren Wert es etwa für Pepsi besitzt, im Coca-Cola-Land Chile wochenlang das Teletón-Logo auf den Schraubverschluss drucken zu dürfen.


Ausgerechnet der Bürgermeister von Las Condes, einem der reichsten Stadtbezirke von Santiago, hat sich vor zwei Jahren mit Kreutzberger und seiner Teletón angelegt – was in Chile etwa so wirkt, als würde man in Indien eine Kuh auf offener Straße schlachen. Francisco de la Maza hatte es nicht mehr hinnehmen wollen, dass die Teletón-Sponsoren den öffentlichen Raum wochenlang kostenlos mit ihren Logos zupflastern. Er wollte dafür Gebühren kassieren und diese anschließend ebenfalls für den guten Zweck stiften. Das gab Ärger mit "Don Francisco" und überhaupt viel böses Blut.


Wahrscheinlich ist die pragmatische Sichtweise einer anderen Freundin aus Santiago die gesündeste: "Dass viele Unternehmen von der Teletón profitieren, ist für mich das kleinere Übel. Denn auf der anderen Seite stehen tausende Kinder, die kostenlos versorgt werden." So ähnlich argumentierte im Jahr 2002 auch Jorge González von den Prisioneros, die auf der Abschlussveranstaltung im Nationalstadion auftraten.


"Ist es nicht toll", fragte González mit leichtem Spott, "dass eine Sache sich in eine ganz andere verwandeln kann? Wir, die Künstler, pflegen hier unser Ego, und am Ende springt dabei eine Hilfe für die Kinder heraus. Und die Habgier und der Geschäftssinn der Unternehmen, die die Preise anheben, von Steuern befreit werden, Extra-Werbung kriegen, kommen den Kindern auch zugute. Obwohl es die breite Masse ist, die am Ende dafür sorgt, dass das Ziel erreicht wird." Dann spielten die Prisioneros ihren Klassiker Quieren dinero und bauten, sehr zum Missfallen der Organisatoren, auch noch ein paar Seitenhiebe gegen die reichsten Männer Chiles und die damals anrüchig gewordenen krummen Geschäfte des Pinochet-Clans ein.



Dienstag, 25. November 2008

Sonnenfahrt



Hier der Beweis, dass es auch in Puerto Montt nicht immer regnet (vgl. das Video vom Juni).

Deutsch II: Enttäuschungen

Nicht nur der Rechtschreibkönig war da, auch der Fußballkaiser: Nach Bastian Sick schaute Franz Beckenbauer kurz mal rein - um die Fußball-WM zu eröffnen, aber auch um für Deutschland und die deutsche Sprache zu werben. In einer Schule, an der das Fach Deutsch unterrichtet wird, enthüllte er gemeinsam mit dem deutschen Botschafter eine Plakette der Initiative "Schulen: Partner der Zukunft". Ziel der sogenannten PASCH-Initiative ist ein weltweites Netzwerk von Schulen, die sich für die Vermittlung deutscher Sprache und Kultur einsetzen.

Die Schule, an der S. unterrichtet, gehört schon dazu, auch wenn sie keine deutsche Auslandsschule im engeren Sinne ist. Dazu bräuchte sie einen deutschen Schulleiter und beamtete Lehrer aus Deutschland, im Idealfall gäbe es sogar einen deutschsprachigen Unterrichtszweig. Aber solche Aus­lands­schulen gibt es in Chile nur noch vier, die mit Abstand größte und am besten ausgestattete ist die Deutsche Schule Santiago, an der man ein vollwertiges Abitur ablegen kann. In der Provinz, wohin sich heutzutage eher wenige deutsche Familien dauerhaft verirren, blickt man mit Neid auf so viel Luxus.

Die meisten der rund 25 Schulen mit Schwerpunkt Deutsch befinden sich in Südchile, rund um Valdivia, Osorno und den Llanquihue-See, wo sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts viele Deutsche mit freundlicher Erlaubnis des chilenischen Staates ansiedelten. Deren Nachfahren tragen weiterhin mit Stolz einen deutschen Nachnamen, klüngeln in "Deutschen Vereinen" und halten den deutschen Pass in Ehren, so sie noch einen besitzen. Mit der Sprache haben es die meisten nicht mehr so. Das macht sich vor allem an den Schulen bemerkbar, deren einst üppige Ausstattung mit deutschen Lehrkräften zudem in den vergangenen Jahren drastisch zusammengestrichen wurde.


An S.' Schule ist es so: Die meisten Eltern melden ihre Kinder hier an, weil die Abgänger dieser Einrichtung seit Jahren hervorragende Ergebnisse bei der Hochschul-Zulassungsprüfung PSU erzielen. Das lassen sich die Familien, ob mit oder ohne Deutsch-Hintergrund, etwas kosten, und die Sprache nimmt man eben in Kauf. So richtig interessiert ist kaum ein Schüler an diesem kehligen Idiom, und das Niveau von Zwölftklässlern, die seit Kindergartentagen dieselbe Schule besuchen und praktisch täglich Deutschunterricht bekommen, ist in den meisten Fällen schlicht erbärmlich.

Besondere Bekümmernis bereitet vielen Lehrern die Tatsache, dass ausgerechnet die deutsche Literatur im Lehrplan gar nicht mehr vorkommt. Zwar wirbt die Schul-Website damit, dass Deutsch die Sprache Goethes, Kafkas und Nietzsches war, aber im Hinblick auf die Unterrichtsinhalte ist das Augenwischerei. Das Deutsche Sprachdiplom, mit dem sich die Schüler für das Studium an einer deutschen Uni qualifizieren können, hebt nämlich auf Alltagssprache bzw. das Verständnis von Texten mit Gebrauchswert ab. Wollte ein Lehrer Grass oder Grünbein lesen lassen, müsste er dies zusätzlich anbieten – aber dazu fehlt allein schon die Zeit. Überhaupt haben nur wenige Schüler eine Affinität zu den Geis­tes­wissenschaften: Wer das "Deutsche Institut" besucht, will später Geld verdienen (oder die Eltern wollen es), als Arzt oder Betriebswirt, Ingenieur oder Rechtsanwalt.

"Von all meinen Schüler haben vielleicht eine Handvoll echtes Interesse an Land und Sprache", sagt S., "die spitzen auch mal die Ohren, wenn ich etwas Aktuelles über die deutsche Gesellschaft erzähle. Von den anderen kommt dann gerne mal der Spruch: Wir sind hier aber in Chile, Frau!"

Gegen die "Frau" kämpfen S. und ihre Kolleginnen wie gegen Windmühlenflügel. Aber auf Spanisch redet man eine Lehrerin einfach mit señora an - wieso sollte das nicht auf Deutsch ebenso gut funktionieren?

Samstag, 22. November 2008

Deutsch I: Verwirrungen

Vor ein paar Tagen war Bastian Sick in Santiago. Der Nationaloberlehrer für das Fach Deutsch tourt gerade auf Einladung des Goethe-Instituts durch Südamerika und wurde in den Räumen des Deutsch-Chilenischen Bundes von 200 Fans be­geistert empfangen. Sick erzählte ihnen etwas über das natürliche Geschlecht von Produktnamen, falsche Apostrophe und die Rechtschreibreform.


Verweilte Sick ein wenig länger in der deutschen bzw. deutschstämmigen Ge­mein­de Chiles, er bekäme es wohl bald mit der Angst zu tun. Das Kulturgut deut­sche Sprache, das er so schmunzelnd verteidigt, hier kommt es auf den Hund – und dazu bedarf es nicht einmal einer generationenlangen Entfremdung von der Heimat, ein paar Jahre, ja Monate reichen locker.


Kannst du mir das Geld heute schon auf mein Konto transferieren?“, frage ich S. und merke sofort: Das stimmt so nicht. Dabei ist „transferieren“ statt „überweisen“ ein eher lässlicher Feh­ler oder, wenn man's ganz genau nimmt, überhaupt kein Fehler. Es entspricht nur eben nicht dem Sprachgebrauch. Soll heißen: Auch bei uns schleichen sich schon auf leisen Pfoten die Hispanismen ein. Manchmal sind die Unterschiede aber auch zu subtil.


Die städtischen Arterien“ schreibe ich und meine „Verkehrsadern“. Aber in spanischen Artikeln ist immer von arterias urbanas die Rede, und Blutgefäße sind das ja auch. Ein wichtiges soziales Ereignis ist in Wirklichkeit ein „ge­sell­schaftliches Ereignis“ und das mangelhafte Handy-Signal entpuppt sich nach längerem Grübeln als schlechter Empfang.


Je länger die Leute hier sind, desto stärker fängt es an zu bröckeln. Das Spanische macht sich breit im Deutschen, sei es als unpassendes Fremdwort, als falsche Übersetzung oder als schrulliger Neologismus. Als erstes geben, wie mir scheint, die Verben den Widerstand auf, dann folgen die Substantive, dann die Adjektive. Der restliche Kleinkram – Pronomen, Konjunktionen und sonstige Partikel – ist am zähesten, auch wenn manche Auswanderungsveteranen jeden zweiten Satz mit einem bueno einleiten.


Noch ein paar authentische Beispiele? „Früher gab's bei Jumbo gutes deutsches Vollkornbrot. Aber dann haben sie die Masse verändert.“ (masa = Teig) „Es war wunderschön, ich war richtig emotioniert.“ (emocionado = gerührt) Oder: „Sie können ruhig mit dem Original bleiben, ich bleibe mit der Kopie.“ (quedarse con = behalten) Undsoweiter.


Richtig drollig wird es, wenn ein gut gehendes Unternehmen mit deutschem Migrationshintergrund wie die Wurstfabrik Cecinas Llanquihue im deutsch­sprachigen Cóndor eine Anzeige wie diese schaltet:



Der Clou an der Sache: Das Wort „Kompromiss“ wird zwar falsch verwendet (ob es in der Sache zutrifft oder nicht), denn gemeint ist „Verpflichtung“ (spanisch: compromiso). Trotzdem gäbe es für die Gebrüder Mödinger, die den besten Schinken von Chile machen, gar keinen Grund, den Anzeigentext zu korrigieren. Denn die Leser verstehen genau, was gemeint ist, und würden vermutlich den­selben Fehler machen. In solchen Fällen wäre selbst ein Bastian Sick impotent, wil sagen: machtlos.


Freitag, 21. November 2008

Freue dich ...

... 's Christkind kommt bald: Auch im frühsommerlichen Puerto Montt schlagen sich vorausschauende Familien bereits jetzt ein Bäumchen fürs Fest.

Donnerstag, 20. November 2008

Die kleinen Roten

Fußball-WM in Chile! Die Welt blickt voller Begeisterung auf dieses lange, schmale Land, das zum zweiten Mal seit 1962 die Meisterschaft ausrichtet. Das Volk jubelt und strömt in die für umgerechnet rund 80 Millionen Euro renovierten Stadien von Chillán, Temuco, Coquimbo und La Florida ...

Ganz so groß ist die Begeisterung dann wohl doch nicht, leider. Ob die U-20-Weltmeisterschaft der Frauen jenseits der Anden Beachtung findet, ist von hier aus schwer zu beurteilen, im Lande selbst wird das Event eher dis­tan­ziert wahrgenommen. Eine Machosportart in einem Macholand, gespielt von jun­gen Damen - da überwiegt bei den männlichen Fußballfans immer noch das Be­frem­den, und weibliche gibt es so gut wie keine. Las rojitas se las traen lautete im Vorfeld der Werbeslogan des staatlichen Fernsehsenders TVN: Dass "die kleinen Roten es in sich haben" (la Roja ist der Kosename der - mänlichen - Nationalmannschaft, die in roten Trikots aufläuft) markiert ziemlich genau die Grenze zwischen Patriotismus und Süffisanz.

Immerhin, das Stadion von Coquimbo war voll, als das eigene Nationalteam gegen England antrat und prompt 0:2 verlor. Zu wünschen wäre den chilenischen Spielerinnen freilich mehr Erfolg, allein schon, um ein paar Vorurteile für immer ins Seitenaus zu befördern. Aber dass heute eine Frauen-WM in Chile ausgetragen wird, wäre noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen. Die Nación zitiert Bernardita Sotomayor, eine Fußballlehrerin in Santiago, die ihre Freude am Ball noch nicht so lange ausleben kann: "Mich hat Fußball von kleinauf begeistert, aber man wurde als Frau in dieser Sportart diskriminiert. Das, was dem Fußball am nächsten kam und noch gesellschaftlich akzeptiert wurde, war Rasenhockey. Also habe ich jahrelang Rasenhockey gespielt."

Heute gibt es eine Frauenfußballliga in Chile, in der bereits 32 Teams spielen. Auch die Sponsoren kommen langsam auf den Trichter. Und eines können die jungen Fußballfrauen jetzt schon genauso gut wie ihre männlichen Kollegen: falsch singen.


Dienstag, 18. November 2008

Ganz schön viel Holz

Die grauen Tage sind vorbei. Kurz vor dem meteorologischen Sommeranfang steht die Sonne schweißbrennerhell am Himmel, weiße Wäsche hängt man besser mit Sonnenbrille auf. Durch die Nähe zur Küste bleibt die Luft aber eher kühl, ein Phänomen, das sich beim Fahren eines Autos ohne Klimaanlage rächt. Fenster zu: Man brät. Fenster auf: Man friert. Aber es gibt Schlimmeres.

Den Treibhauseffekt zum Beispiel. Dass wir mit unseren Langstreckenflügen ein nettes Quäntchen Kohlendioxid in die Atmosphäre entlassen, war mir schon klar. Unschön wird es, wenn man sich das Ausmaß seines klimaschädigenden Verhaltens anhand eines Rechenexempels verdeutlichen lässt. So in etwa:

Einmal Puerto Montt und zurück macht Pi mal Daumen 30.000 Flugkilometer. Mal vier gleich 120.000. Legt man einen Kerosinverbrauch von 5 Litern pro Fluggast und 100 Kilometer zugrunde, kommen wir auf 6.000 Liter Treibstoff. Glaubt man nun dem Umweltrechner des Projekts "Fair Chile", macht das einen CO2-Aus­stoß von knapp 19 Tonnen, eine Menge, die wieder zu binden es der Pflanzung von, nun ja, 3.150 Bäumen bedürfte. Sagt jedenfalls Fair Chile und rechnet weiter: Rund 60 Eurocent kostet ein einheimisches Bäumchen in Chile - wollte man also alles richtig machen und eine dem verursachten Umweltschaden angemessene Aufforstung gegenfinanzieren, müsste man 1.890 Euro zahlen. Zusätzlich zum Flug.

Die von Österreichern gegründete Stiftung Trekkingchile, die das Fair-Chile-Projekt durchführt, nimmt auch gerne entsprechende Spenden an, um sie, nach eigenen Angaben, in soziale und ökologische Projekte zu investieren. Etwa in die Wiederaufforstung in der Región del Maule. 3.000 Bäumchen aus lokalen Baumschulen sollen in einer ersten Etappe bereits gepflanzt worden sein. Vier Leute haben also schon gespendet.


Freitag, 14. November 2008

Pancho

Tanztheater in Santiago, die Compañía de Papel, eine freie Truppe, gibt Pies pa' volar. Was die zwölf Tänzer im Lichthof der Universidad de Chile aufführen, ist vielleicht nicht, wie man es in Berlin erwarten würde, doppelt und dreifach dekonstruiert, aber phantasievoll, handwerklich gut gemacht und schön choreografiert. Getanzt wird mit Tischen und Stühlen, leeren Ballkleidern, bäuchlings auf dem Boden, zwischendurch passiert irgendetwas mit den Frauen, die sich wie vor Schmerzen winden. Nach Ende der Vorstellung erfahren wir, dass die "Füße zum Fliegen" das Leben von Frida Kahlo versinnbildlichen. Hätte man sich eigentlich denken können.



Wir waren aber auch wegen Pancho da. S. hat Pancho seit fast zehn Jahren nicht gesehen, ich habe ihn schon vor ein paar Monaten kurz wiedergetroffen. Pancho ist Ende zwanzig und tanzt erst seit ein paar Jahren. Dafür aber ziemlich gut. S. hat ihn 1998 kennen gelernt, als sie am Rand von Santiago einen Theaterworkshop leitete. Als sie nach Deutschland zurückmusste, sagte sie zu Pancho, er könne uns gerne mal besuchen kommen. Das tat er dann auch - und blieb volle drei Monate. Wir hatten damals eine Zwei-Zimmer-Wohnung und in einem der beiden Zimmer saß Pancho meist nachmittags und lernte Deutschvokabeln für seinen Kurs an der Volkshochschule Neukölln. Bemerkenswerterweise lernte er richtig viel in der kurzen Zeit. Wir unternahmen ein paar schöne Ausflüge zusammen, dann flog er nach Chile und meldete sich nicht mehr.

Vor unserer diesjährigen Reise stellten wir den Kontakt wieder her, Google sei Dank. Pancho hat uns jetzt erzählt, wie es ihm so ergangen ist nach seinem Deutschlandaufenthalt. Es ist ihm nämlich zuerst gar nicht gut ergangen: "Ich habe damals in Berlin eine völlig andere Welt kennen gelernt, die mit meiner kleinen Welt so gar nichts zu tun hatte. Das hat mich total aus der Bahn geworfen." Pancho, der damals bereits angefangen hatte, Philosophie und Pädagogik zu studieren, kam an der Uni auf keinen grünen Zweig, nahm Drogen - "alles durcheinander" - und dachte viel ans Sterben. Dann fing er an, Theater zu spielen, dann zu tanzen. Dann hatte er sein Coming-out. Und schließlich machte er, quasi nebenbei, auch noch seinen Abschluss an der Uni. Heute geht es ihm richtig gut, sagt er, und man glaubt es ihm sofort. Deutsch kann er auch noch.

Das ist doch mal eine schöne Geschichte.

Donnerstag, 13. November 2008

Ende eines Superzyklus

Kupferhochofen in Chiles größter staatlicher Mine Chuquicamata (lakerae/flickr)


In der Innenstadt von Santiago versanken die Bürgersteige gestern Abend in Papierschnipseln - die Reste der Proteste, mit denen die Anef, die Vereinigung der chilenischen Staatsangestellten, eine 14,5-prozentige Lohnerhöhung gefordert hatte. Die Demonstrationen fanden vor dem Hin­ter­grund eines zweitägigen Streiks statt, der von der Müllabfuhr bis zum Standesamt praktisch alle kommunalen und staatlichen Dienst­leis­tun­gen lahmlegte. In den kommenden Tagen wird wieder mit Finanzminister Andrés Velasco verhandelt.

Der hat allerdings seit neuestem eine gute Ausrede, um den Zuschlag abzulehnen, der die Einkommen im Vergleich zu November 2007 um real 4,6 Prozent anheben würde: Der Kupferpreis ist, auch dank der welt­weiten Finanzkrise, wieder im Keller.


Dabei hatten die Chilenen noch im Sommer mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass selbst die olympischen Goldmedaillen von Beijing größtenteils aus chilenischem Kupfer bestanden. Der chinesische Boom (nein, nicht bei der Medaillenproduktion) war mitverantwortlich für den bei­spiel­losen Preisauftrieb des Rohstoffs.


Fünf Jahre dauerte der Höhenflug. Im vergangenen April stand das rote Metall bei vier Dollar pro Pound*, Ende Oktober waren es nur noch magere 1,67 Dollar, seitdem schwankt der Weltmarktpreis um diesen Wert. Hatte der chilenische Staat, der über die Codelco noch immer bedeutende Anteile des Kupferbergbaus kontrolliert, in den vergangenen Jahren rund 20 Milliarden US-Dollar aus Kupfergewinnen angespart, dürf­ten die Einnahmen jetzt schnell zusammenschrumpfen - nicht nur ist der Preis gefallen, die Firmen haben als Reaktion auf den Nachfrageverfall auch die Produktion gedrosselt.

Clarin.cl zitiert Codelco-Vorstand Juan Pablo Arellano mit der Aussage, die welt­wei­te Finanzkrise habe einen "Superzyklus abrupt beendet", von dem das Unternehmen und das gesamte Land jahrelang profitiert hätten. Jetzt, so Arellano, "stehen wir wieder vor einer Marktsituation, die wir längst kennen, mit Preisen unter der Zwei-Dollar-Marke".

Für etwas mehr als 1,26 Dollar/Pound sollte sich das Kupfer allerdings schon verkaufen lassen – darauf belaufen sich derzeit die Pro­duk­tions­kos­ten.

* 1 Pound = 454 Gramm

Dienstag, 11. November 2008

Überall Bettler

Ein seltsames Privileg, das wir in Chile genießen, ist die Tatsache, dass wir uns bis zu einem gewissen Grad quer zur sozialen Hierarchie bewegen können. So fühlt es sich zumindest in Santiago an, wo S. und ich vor vielen Jahren in sehr armen Vierteln gelebt und gearbeitet haben. Dort haben wir auch, um es einmal altmodisch auszudrücken, Freundschaften fürs Leben geschlossen. Sicher, unsere Freunde haben die ökonomischen und intellektuellen Begrenzungen, die Armut bedeutet, durchbrochen, die meisten von ihnen leben heute in relativ gesicherten Verhältnissen, haben studiert, sind gereist. Etliche, die seinerzeit in einer der unzähligen NGOs soziale Arbeit leisteten, sind inzwischen bei staatlichen Einrichtungen untergekommen, die sich in ähnlicher Weise engagieren. Reich sind sie damit natürlich nicht geworden, und viele leben und arbeiten weiterhin in Bezirken, die man in Deutschland wohl als "soziale Brennpunkte" bezeichnen würde.

Weil unser aktueller Aufenthalt in Chile unter gänzlich verschiedenen Vorzeichen stattfindet, hat sich uns aber auch die andere Welt erschlossen, die der Reichenviertel, der Chilenen aus besseren Familien, der Deutschen mit gut dotierten Arbeitsverträgen. De Plaza Italia pa'rriba wohnen diese Menschen in Santiago, von der Plaza Italia aufwärts - wobei "aufwärts" sich tatsächlich in Höhenmetern bemisst. Hier oben, in Las Condes oder Vitacura, ist alles anders als unten in Recoleta oder Cerro Navia. Statt Staub zu schlucken, atmet man eine weiche, aromatische Luft, besonders an warmen Abenden, wenn die Rasensprenger der großen grünen Gärten leise ticken. Geländegängige Fahrzeuge rollen weich über schlaglochfreie Straßen und verschwinden lautlos in Tiefgaragen, auf den Spielplätzen toben die Kinder über allerlei originelles Gerät, das, nebenbei bemerkt, großteils von einer Firma aus Berlin-Reinickendorf stammt. "Unten" darf man schon dankbar sein, wenn die windschiefe Rutsche nicht durchgerostet ist.

Natürlich kreisen auch die Gespräche hier und dort um unterschiedliche Themen - bzw. um unterschiedliche Aspekte derselben Themen: Oben tauscht man Tipps aus, wo man gute und billige Haushälterinnen oder Gärtner bekommt, unten, wo man einen einigermaßen spendablen patrón findet. Wer unten ins "Zentrum" geht, meint das tatsächlich so, wer's oben sagt, bezieht sich meist auf einen der Büro- und Shopping-Cluster in der Oberstadt, wo man der Plebs erst gar nicht begegnet. Undsoweiter. Wir für unseren Teil switchen hin und her, gehen am Sonntag erst "unten" auf den Straßen-Flohmarkt und später "oben" Sushi essen.

Trotz unserer gegenteiligen Sozialisation sind wir nicht ungern in den besseren Vierteln, das Leben fühlt sich hier so leicht an. Und es ist ja immer nur für ein paar Tage, die wir in der Hauptstadt verbringen. Gestern Abend waren wir mit den Kindern auf dem Laternenumzug, den der deutsche evangelische Pastor hier seit Jahren am Martinstag veranstaltet. Eigentlich eine katholische Tradition, aber eben auch eine deutsche. Lauter fröhliche, blonde Kinder, die ihre Lichtlein zum Klang eines Akkordeons durch die stillen, grünen Straßen schaukeln, und am Ende gibt's Martinsgänse aus Hefeteig. Schön. Daran, dass die Bettler aus der Martinslegende ein paar Kilometer weiter ganze Viertel bevölkern, sollte man in solchen Augenblicken besser nicht denken. Aber viele der Anwesenden dürften diese Viertel höchstens vom Hörensagen kennen. Und wie sagte der Pastor? "Bettler sind wir am Ende doch alle."

Samstag, 8. November 2008

Rap die Violeta Parra

Fotos: Andrea Barría Villarroel auf flickr.


Cien años, mil sueños lautete der Slogan des letzten Höhepunkts im Allende-Jahr 2008: "Hundert Jahre und tausend Träume" sollten auf zwei Konzerten im Nationalstadion von Santiago am 7. und 8. November gefeiert werden. Organisiert hatte das die Allende-Stiftung, aufgetreten sind am ersten Tag an die dreißig einheimischen Künstler, der Argentinier Pedro Aznar und der Brasilianer Chico César, am zweiten dann Spanier wie Joaquín Sabina, Ana Belén und Víctor Manuel sowie der Kolumbianer Juanes. Letztere haben wir uns dann geschenkt.

Das Publikum war jung, links und gut gelaunt, trug Wolle und Leder und rauchte Gras. Die Lebensdaten vieler dürften sich mit denen Allendes gar nicht mehr überschneiden, aber der Jubel war groß, wenn dessen Bild auf der Stadionleinwand eingeblendet wurde. Der gut aussehende ältere Herr mit der Hornbrille, so lautet die Lehre, ist eben Pop. Und war es wohl seinerzeit auch schon.

Die Musik, die geboten wurde, überraschte positiv. Kein angestaubtes Herunterschrammeln der alten Hymnen, sondern ein zeitgemäßer Stilmix. Besonders apart: die von Anita Tijoux (Ex-Makiza) gerappte Version eines Violeta Parra-Themas und das vom Liedermacher Manuel García gecoverte und mit Pink Floyd unterlegte Santiago de Chile des Kubaners Silvio Rodríguez: Allí amé a una mujer terrible / llorando por el humo siempre eterno / de aquella ciudad acorralada / por símbolos de invierno. Dazu muss man wissen, dass Silvio Rodríguez in diesem Publikum eigentlich Heiligenstatus genießt, was seine Lieder, die jeder mitsingen kann, unantastbar macht. Dachte ich.



Manuel García ist der, der ein bisschen wie Dylan aussieht.

Was dann doch irgendwie komisch war: dass auch die Tickets für ein Konzert, mit dem eines großen Sozialisten gedacht wird, in zwei deutlich unterscheidbaren Preisgruppen verkauft werden. Und das Spielfeld dementsprechend mit einem Gitter zur Zwei-Klassen-Gesellschaft gemacht wird. Wir waren natürlich vorne, wegen der Kinder.

Donnerstag, 6. November 2008

Unterwegs

In Kürze geht es auch hier weiter.

Dienstag, 4. November 2008

Kinder, lasst das Kiffen sein

Zu Cannabisprodukten haben viele Chilenen ein angenehm entspanntes Verhältnis, was natürlich auch auf den vergleichsweise hohen Konsum zurückzuführen sein könnte. An gutes Gras zu kommen, ist selten ein Problem - in einem Land mit viel Platz und viel Sonne kommt jedenfalls niemand auf die Idee, Zimmer-Plantagen mit künstlichem UV-Licht anzulegen. Keine Erleuchtung war dagegen die Entscheidung der Regierung von Anfang des Jahres, Marihuana auf eine Stufe mit Drogen wie Kokain und der zerstörerischen pasta base zu stellen, etwa was das Strafmaß für den Handel angeht.

Am meisten Sorgen macht der staatlichen Drogenkontrollbehörde Conace der verbreitete Cannabisgebrauch unter Jugendlichen und deren mangelndes Problembewusstsein. Einer im vergangenen Jahr durchgeführten Erhebung zufolge haben fast 16 von 100 Schülern zwischen der 8. und der 12 Klasse mindestens einmal in den letzten zwölf Monaten Marihuana konsumiert - wobei es unter den Achtklässlern fünf und unter den Schulkameraden aus der Zwölften 24 Prozent waren. Die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen sowie zwi­schen (armen) öffentlichen und (reichen) privaten Schulen erstaunlich wenig aus­ge­prägt sind.

Jetzt will man auch propagandistisch gegenlenken: Seit gestern sendet das Fernsehen drei quietschbunte und nicht unlustige Aufklärungsspots, Motto: "Sei wieder intelligent - lass das Marihuanarauchen sein". Im Mittelpunkt steht immer ein Jugendlicher, dem das Kiffen offenbar die Hirnwindungen restlos zu­sam­men­ge­schmolzen hat. Ihm erklärt eine aufmunternde Stimme aus dem Off, wie man ein Heft aus dem Schulrucksack holt, Eiswürfel herstellt oder Turnschuhe anzieht: "Du hast es geschafft, herzlichen Glückwunsch!" Ob's hilft?



Sonntag, 2. November 2008

Llanada Grande

Gemein, wenn ausgerechnet in so einer zauberhaften Landschaft der Ka­me­ra-Akku streikt. Ein, zwei Aufnahmen lassen sich durch Aus- und erneutes Anschalten noch herausschinden, bis endgültig Schluss ist. Und dann kommt man zu diesem Hexenhaus, kurz vor dem Wasserfall am Rand von Llanada Grande. Ein in sich zusammengesunkenes, regelrecht eingeschrumpftes Häuschen aus grauen, flechtenbewachsenen Brettern, in dessen Dach der blecherne Schorn­stein nicht lotrecht, sondern rechtwinklig steckt, wie auf einer Kin­der­zeichnung. Vor dem Häuschen wühlen Ferkel im Schlamm, Lämmchen verstecken sich hinter ihren Müttern, ein zerzauster Hund kläfft die Wanderer an, die an dieser Stelle eine Gebühr für den Zugang zur cascada entrichten müssen. Einstreichen wird sie eine zahnlose Alte, die aus dem Dunkel der Hütte auftaucht und Unverständliches brummt.

Zu den faszinierenden Seiten von Südchile gehört die Tatsache, dass man in diesem großen, leeren Land nach ein, zwei Stunden Fahrt Lebenswelten besichtigen kann, die sich dem gesellschaftlichen Veränderungsdruck immer noch erfolgreich entziehen. Menschen wie die Alte in ihrem windschiefen Häuschen oder zwei Reiter in groben, grauen Ponchos - die einzigen Menschen, die uns in Stunden begegnen - leben, so scheint es, auf einer Zeitinsel, in der viele Prozesse verlangsamt ablaufen. Um nach Llanada Grande zu gelangen, einer Ansammlung von Häusern und Viehweiden zwischen Schneegipfeln, unberührtem Wald und türkisfarbenen Flüssen, muss man aber auch ein bisschen mehr Zeit mitbringen. Von Puerto Montt aus umrundet man auf Schotterpisten den Reloncaví-Fjord, biegt in Richtung Kordillere ab und wartet geduldig auf die kleine Autofähre, die in einer halbstündigen Fahrt den Tagua-Tagua-See überquert. Manchmal dauert die Fahrt etwas länger, dann hält der Kapitän irgendwo am felsigen Seeufer, und ein paar Leute springen auf oder ab. Manche bezahlen nicht mit Geld, sondern einem Glas selbst gekochter Marmelade.

Ewig währen auch kleine Paradiese wie Llanada Grande nicht: Schon jetzt ist das Tal des Río Puelo relativ weit erschlossen, und die Brigaden des Cuerpo Militar de Trabajo, einer militärischen Einheit, die Straßen und Pisten in die Wildnis stampft, stehen kurz vor der argentinischen Grenze. Das Nachbarland dürfte dies nicht als unfreundliche Geste verstehen, denn wenn der Weg, auf dem man heute nur zu Fuß oder per Pferd nach El Bolsón kommt, erst einmal mit Jeep oder Pickup befahrbar ist, dürfte das dem grenzüberschreitenden Tourismus einen gehörigen Schub versetzen. Davon profitiert die Wirtschaft auf beiden Seiten, aber die Uhren in Llanada Grande, wo es heute lediglich ein gemeinschaftlich genutztes Satellitentelefon gibt, um mit dem Rest der Welt Kontakt aufzunehmen, werden dann ein bisschen schneller gehen.