Montag, 4. August 2008

Das erste eigene Buch

Wie billig das Leben in Chile für uns Europäer tatsächlich ist, diese Frage ist nicht restlos geklärt. Es kommt auf das gesellschaftliche Umfeld an, in dem man sich niederlässt, auf die spezifischen Bedürfnisse in Sachen Wohnen, Ernährung, Mobilität, Kommunikation und Kultur. Wer kein Problem damit hat, auf der 1000-Kilometer-Fahrt in die Hauptstadt im Reisebus zu übernachten, lebt preiswert, wer fliegen muss, nicht so sehr. Wer täglich lecker Weißbrot isst, zahlt fürs Kilo keinen Euro, das exquisite Vollkornprodukt ist nicht so billig zu haben. Mitunter nimmt man auch neue Konsummuster an, weil die Verhältnisse eben nicht so sind: Ein Auto kompensiert den lückenhaften öffentlichen Verkehr, ein Haus mit Garten den Mangel an Grünanlagen usw. Das kostet.

Trotzdem ist fast alles billiger als in Deutschland - mit Ausnahme von Büchern. Gedrucktes ist in Chile ein ziemlich teurer Spaß, obwohl das Lesen in der Theorie einen hohen Stellenwert genießt: In Santiago werden Werke der Weltliteratur als Raubkopie auf dem Bürgersteig verkauft, und die Metro unterhält für ihre Fahrgäste eine eigene Leihbibliothek mit mehren Filialen. Seit Jahr und Tag wird gefordert, Bücher von der 19-prozentigen Mehrwertsteuer zu befreien. Dass der Lesestoff so viel kostet, erklären manche damit, dass der chilenische Markt zu klein ist - zumindest was die Werke einheimischer, im Ausland unbekannter Autoren betrifft, könnte das ein Grund sein. Wie die Verlage ihre hochpreisigen Produkte doch noch an den Mann zu bringen versuchen, konnten wir jüngst erleben.

Als wir die Einladung zu einer Buchpräsentation in einem der besseren Hotels der Stadt erhielten, waren wir ein wenig erstaunt: J., so hieß es, habe an einem Buch mitgeschrieben, das wir uns - absolutamente gratuito - unter Vorlage der Einladung abholen könnten. Auf der Karte prangte das Logo des chilenischen Bildungsministeriums. Dass J. mit seinen vier Jahren ein Doppelleben als Autor führte, konnten wir uns nicht vorstellen, aber die Neugier war geweckt. Im "Diego de Almagro" wurden wir von einer jungen, dunkel gekleideten Dame willkommen geheißen und in einen Konferenzraum gebeten, wo an mehreren Tischen Familien saßen und anderen jungen, dunkel gekleideten Damen lauschten.

"Wenn Sie möchten, werde ich Ihnen die Geschichte vorlesen, die Ihr Sohn geschrieben hat", sagte die junge Dame und zeigte auf ein Paperback mit dem Titel Escuchemos al Futuro*. Es handelte sich um Band 58 einer Reihe, die im Rahmen der ministeriellen "Kampagne zur Förderung und Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in Chile" auf vielen tausend Seiten Geschichten chilenischer Grundschüler publiziert. Aller Grundschüler, um genau zu sein (außer B., wie dieser konsterniert feststellen musste). Natürlich hatte J. die Geschichte mit dem Titel "Der dickköpfige kleine Wolf" nicht selbst verfasst, vielmehr firmierten alle Kinder seiner Vorschulgruppe als Verfasser des Textes, den uns die junge Dame nun mit großem Ernst vorlas. Sie handelte von einem Wolf namens Juanito, der entgegen dem Rat seiner Mutter Gras gefressen hatte, Bauchschmerzen bekam und zum Doktor musste.

"Bitteschön, dein erstes eigenes Buch", lächelte die junge Dame und schob J., der sie verständnislos ansah, den Band über den Tisch. "Wir vom Verlag Océano", fuhr sie an uns gerichtet fort, "würden gerne die Gelegenheit nutzen, Ihnen ein interessantes Angebot zu unterbreiten. Haben Sie noch ein bisschen Zeit?" Da lag also der Hase im Pfeffer: eine Art Public Private Partnership. Der Verlag druckt den Kinderkram gratis fürs Ministerium und darf im Gegenzug Werbung in eigener Sache machen. Aber gut, wir wollten keine Spielverderber sein.

Die junge Dame präsentierte uns das hier. Und das. Und das und das. "Normalerweise kosten diese Bücher zusammen rund 430.000 Pesos", sagte die junge Dame, "aber heute haben Sie die einmalige Gelegenheit, alle für 385.000 Pesos zu erwerben. Und das Beste: Sie bekommen ein Kinderfahrrad als Geschenk dazu." Das war der Köder, B. schluckte ihn sofort. Das in der Mitte des Raums aufgestellte Fahrrad war ihm gleich aufgefallen. Sein eigenes hatte er in Deutschland zurücklassen müssen. Allzu übel sah diese hier nicht aus, aber wir mussten doch noch einmal nach dem Preis fragen. 385.000? Das sind, Moment ... 480 Euro. Vierhundertachtzig Euro. Für acht Bücher in sehr bescheidener Druckqualität. Wir versprachen, das Angebot zu überdenken und suchten das Weite.

Jetzt schulden wir B. ein Fahrrad.


* frei: "Lasst uns der Zukunft lauschen"

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