Freitag, 1. August 2008

Halb blind durch die Stadt

Tuerto heißt "einäugig", ein schönes Wort für einen weniger schönen Sachverhalt. Schön allein deshalb, weil sich das Spanische die Mühe macht, eine eigene Vokabel dort bereitzustellen, wo das deutsche Attribut lediglich aus einer quasi technischen Beschreibung besteht. Egal: Tuerto ist in diesem Fall unser Auto, denn vorne rechts leuchtet nur ein müdes Standlicht, und eine frische Glühlampe brennt innerhalb von Minuten durch. Ein Kurzschluss, irgendwo. Abhilfe zu schaffen ist komplizierter, als es scheinen könnte: Die Mechaniker von Puerto Montts größter Werkstatt, in deren Hände wir den Schlüssel unseres Chevrolets mittlerweile vertrauensvoll legen, zucken hilflos mit den Schultern. Keiner von ihnen hat Kfz-Elektriker gelernt, und mal im Vertrauen, sagt der Chef, ich kenne keinen Meister in Puerto Montt, der so was macht.

Es ist natürlich ein mittelschwerer Skandal, dass man in einer 200.000-Einwohner-Stadt seinen Scheinwerfer selbst reparieren soll, aber so betrachtet nimmt es nicht Wunder, dass hier derart viele Fahrzeuge halb blind unterwegs sind. Die sonst wenig tolerante Polizei scheint es auch nicht zu stören, vermutlich ist ihr der Missstand bekannt.

Überhaupt, das Autofahren. Erst einmal wirkt das Geschehen auf den Straßen der chilenischen Provinz außerordentlich geordnet. Es gibt wiedererkennbare Verkehrsschilder sowie Schlaglöcher in überschaubarer Zahl, die Ampelanlagen funktionieren und - anderswo auf dem Kontinent undenkbar - die Fahrer bleiben im Gegensatz zu den Fußgängern tatsächlich bei Rot stehen.

Hat man als Zugezogener aber Vertrauen geschöpft und die anfängliche Vorsicht abgestreift, stößt man allenthalben an seine Grenzen: Fahrspuren, denen man kilometerweit durch die Stadt gefolgt ist, enden ohne Vorwarnung auf einer Verkehrsinsel oder verschmelzen irgendwie mit einer zweiten. Fußgänger laufen unvermittelt über einen der vielen Zebrastreifen, die hier selbst Durchgangsstraßen kreuzen. Ein vermeintlicher Schleichweg entpuppt sich plötzlich als Einbahnstraße, die man in der falschen Richtung befährt (ein Schild gibt es nicht, aber die Einheimischen wissen es ja), und mit einem Mal lernt man den Wert reflektierender Farbe zu schätzen, mit der in Deutschland die Streifen auf die Fahrbahn gemalt werden. Hier sind diese Streifen bei Dunkelheit und Regenwetter: weg.

Erstaunlich also, dass so wenig zerbeulte Karosserien unterwegs sind, ja dass es nicht ständig von allen Seiten knallt und scheppert. Das liegt am Fahrstil, den hier die meisten pflegen, und den man sich tunlichst anzugewöhnen hat: sehr defensiv, sehr betulich, erstaunlich entspannt. Natürlich ist hin und wieder irgendein Idiot unterwegs, aber die Kampfstimmung, die auf Berliner Straßen herrscht, das Aggressive, Rechthaberische, das Hupen hinter einem, wenn die Ampel vor Millisekunden auf Grün gesprungen ist, das Drohen und Drängeln sind hier kaum bekannt. Und das ist, man kann es nicht anders sagen, sehr gut so.

Natürlich geht es im chilenischen Verkehr trotzdem nicht ohne Unfälle ab. Wir wollten deshalb unlängst ein "Sicherheitspack" erwerben, das bei Líder im schicken Filz-Etui angeboten wird. Abstand vom Kauf nahmen wir, als wir bei mehreren Stichproben den Inhalt der Verbandskästen begutachtet hatten, die zusammen mit winzigen Feuerlöschern und Warndreiecken in der Tasche stecken. Die Plastikschachteln, die offensichtlich noch als Hüllen für VHS-Kassetten hergestellt wurden, enthalten: zwei Ohrenstäbchen, zwei Wundpflaster, zwei Kopfschmerztabletten und einen Wattebausch. So geht's dann auch wieder nicht.


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