Dienstag, 16. September 2008

Mit Säurehemmern aufs Laubhüttenfest

Wenn S. dieser Tage auf die häufig gestellte Frage, welches denn der deutsche Nationaltanz sei, wahrheitsgemäß mit "keiner" antwortet, erntet sie von ihren Schülern Reaktionen zwischen Ungläubigkeit, Mitleid und Entsetzen. In Chile gibt es - natürlich! - einen: die cueca. Zugereisten erschließt sich das balzende Ein­an­der­um­krei­sen, bei dem Mann und Frau energisch mit langen Taschentüchern wedeln, nur schwer. Allein der synkopierte Dreivierteltakt ist eine Zumutung. In der Theorie tanzt man die cueca in Chile in bunten Trachten (die Män­ner mit sporenbewehrten Cowboystiefeln), in der Realität behält man an, was man gerade trägt. Das sieht dann beispielsweise so aus:



Der jährlich wiederkehrende Anlass, cueca zu tanzen, steht uns gerade ins Haus: Am 18. September ist Nationalfeiertag, und so wie der 11. September der once ist, nennt man den 18. schlicht el dieciocho. Gefeiert wird die Ablösung Chiles von der spanischen Krone, aber das ist kaum mehr als der Anlass für ein paar wilde, arbeitsfreie Tage mit viel gegrilltem Fleisch und noch mehr chicha - was im Wein­land Chile für Federweißen steht. Dazu die unvermeidlichen empanadas, Teig­ta­schen mit einer Füllung aus Fleisch, Zwiebeln, Rosinen, Oliven und Ei. Schon jetzt laufen im Radio Spots für Magensäurehemmer.


Köchelt das restliche Jahr über der chilenische Nationalstolz auf erfreulich kleiner Flamme, wird rund um den dieciocho die Sau rausgelassen. Das Bild passt gut, denn zum Feiertag verwandeln sich auch die urbansten Urbaniten in fressendes, saufendes, grölendes Landvolk. Nun, alle vielleicht nicht, aber das ist das Leitmotiv des dieciocho: Chile ist und bleibt ein Volk von huasos, ¡caramba!

Eine knappe Woche lang ist alles rot-weiß-blau, tragen die Kinder breitkrempige Hüte aus Papier oder bunte Röckchen, werden ramadas gebaut, wenig stabile Fei­­er­­tags­­lo­ka­le mit Dächern aus Palmwedeln oder anderen Zweigen, in denen an­schlie­ßend getrunken und getanzt wird. So gesehen ist der dieciocho das chi­le­ni­sche Laub­hüt­ten­fest.


Um das rurale Idyll zu komplettieren, werden auch ländliche Spiele wiederbelebt. Man geht zum Rodeo, und die Kleinen peitschen große Holz­krei­sel oder lassen Papierdrachen steigen. Das heißt: Drachensteigenlassen wird auch von Er­wachsenen als Wettkampfsport betrieben, und Jahr für Jahr zieht die Polizei ein illegales Produkt ein, das es vielleicht nirgendwo anders gibt: den berüchtigten hilo curado, eine mit Leim und gemahlenem Glas präparierte Drachenschnur. Sie soll bei Wettkämpfen die gegnerischen Schnüre zerschneiden, ist aber auch ein guter elektrischer Leiter (Stromkabel!) und führt, wenn ohne Handschuhe ver­wen­det, zu bösen Schnitt- und Brandwunden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen