Freitag, 29. Mai 2009

37 Jahre Erinnerung

"Seine Augen waren offen. Alle, die da lagen, hatten offene Augen. Die­ses Bild geht mir bis heute nicht aus dem Kopf."

Anfang dieser Woche hat Héctor Herrera Olguín als Zeuge vor dem Un­ter­suchungsrichter Juan Eduardo Fuentes ausgesagt, der die Er­mor­dung des Sängers Víctor Jara in den Tagen nach dem Militärputsch 1973 aufklären soll. Das Verfahren war vor einem Jahr eingestellt worden, wurde aber nach anhaltenden Protesten neu aufgerollt. Herrera Olguín war im September 1973 ein junger Mitarbeiter der Meldebehörde von Santiago. Er musste mit einem Kollegen rund dreihundert Tote in der Ge­richts­medizin identifizieren, bevor die Leichen - auf Anordnung der Militärjunta unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit - beerdigt wurden.

Herrera Olguín hatte damals den populären Sänger trotz der massiven Verstümmelungen erkannt und seiner Frau Joan die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht. Darüber gesprochen hatte der Mann, der einige Jahre später in seine jetzige Heimat Frankreich flüchtete, bis heute nicht. Nach seiner Aussage in Santiago erlitt er einen Zusammenbruch und musste medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.

Ein ausführliches Telefoninterview, das er am Donnerstag Radio Coope­rativa gegeben hat, kann man hier anhören.

Mit dem 54-jährigen José Adolfo Paredes hat Richter Fuentes derweil den mutmaßlichen Täter in Untersuchungshaft genommen. Der damals 17-jäh­rige Rekrut führte freilich bloß den Befehl eines Offiziers aus, dessen Identität weiterhin nicht geklärt ist. Dass dies bald geschieht, hofft auch Jaras Witwe. "Ich verspüre ihm gegenüber keine Ra­che­ge­lüs­te", sagte sie in Bezug auf Paredes, der seine Ma­schi­nen­pistole auf Jara abfeuerte. "Er hat die letzten 37 Jahre mit der Erin­ne­rung an seine Tat leben müssen."

Das Foto zeigt Víctor Jara und Joan Turner Anfang der 70er-Jahre.

Donnerstag, 28. Mai 2009

Endlich Winter

Vulkan Calbuco und Insel Tenglo, Puerto Montt, Ende April bzw. Ende Mai 2009.

Mittwoch, 27. Mai 2009

Farben machen Leute


J. hat seit ein paar Wochen eine Schuluniform, er trägt sie mit Stolz. Eigentlich ist es mehr ein Trainingsanzug als eine Uniform, aber Farbgebung und Schriftzug der Schule (zu der sein Kindergarten gehört) weisen ihn als Teil einer Gruppe aus, mit der er sich gerne identifiziert. Zu den Vorzügen seiner und B.s Schule gehört andererseits, dass das Tragen der Trainings-Uniform freiwillig ist. In den staatlichen und auch den meisten anderen Privatschulen ist das nicht so: Hier herrscht strenge Uniformpflicht. Nachmittags, nach Unterrichtsende, sieht man Trauben, ach was: Herden Uniformierter über die Straße ziehen.

In Deutschland flammt ja alle Jahre wieder die Debatte auf, ob Schuluniformen nicht doch von Vorteil wären, um sichtbare Statusunterschiede zwischen Schülern und überhaupt deren Fixierung auf Äußerlichkeiten aufzuheben. Vor dem Hintergrund unserer hiesigen Erfahrungen muss man sagen: Auf gar keinen Fall!

Nicht dass die chilenischen Schüler kreuzunglücklich wären mit ihren einheitlichen Anzügen, Sweatshirts und Röckchen - auch wenn letztere ihre Trägerinnen teilweise überdeutlich sexualisieren (man hat dann bisweilen dieses Molotov-Cover vor Augen). Dass auch optisch neutralere Uniformen mehr Probleme schaffen als sie lösen, hat mehrere Gründe:

1. Die Status-Differenzen werden nur subtiler. Wer Einheitskleidung trägt, verdeutlicht seine überlegene soziale Stellung durch Jacken, Armbanduhren, Brillengestelle, IPods, Handys undsoweiter. Umgekehrt ist die sichtbare Alterung der Uniform (die schon der große Bruder tragen musste) ein Ausweis für ökonomische Schwäche.

2. Der Lehrer wird zur Bekleidungspolizei. Eigentlich müsste S. fast jeden Tag Schüler bei der inspectoría, den schulinternen Ordnungshütern, melden. Denn damit Uniformen uniform wirken, muss man permanent auf ihrem korrekten Tragen bestehen. Sonst schleichen sich ganz schnell wieder Spuren von Individualität ein - etwa indem jemand Schuhe mit drei Streifen trägt anstatt solcher, deren Marke weniger deutlich erkennbar ist. Natürlich meldet S. die Schüler nicht.

3. Auf das stärkste Argument gegen Schuluniformen wäre ich in Deutschland, wo ja keine diesbezügliche Praxis herrscht, nie gekommen: Uniformen stigmatisieren. Nicht in der Schule, sondern auf dem Schulweg. In einem Land wie Chile, wo Klassenunterschiede sich nahtlos ins Bildungswesen fortsetzen, ist das natürlich besonders krass. Schon von weitem erkennt man, aus welchem Stall der andere kommt, ob die wirtschaftliche Situation seiner Eltern für das Privatinstitut mit dem klingenden Namen reicht oder gerade einmal fürs liceo técnico, auf das die späteren Arbeitslosen gehen. Rotgraue, Gelbblaue, Grünkarierte bzw. Alphas, Betas, Gammas.

Die Schule, an der S. unterrichtet und auf die B. im ersten Jahr ging, hat sich für ihre unteren Klassen etwas ganz Gemeines ausgedacht: Die Kleinen müssen eine Art Kopie jenes Trikots tragen, mit dem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft 1990 in Italien Weltmeister wurde. Inzwischen trägt B. nur noch seine eigenen Klamotten.

Dienstag, 26. Mai 2009

Pokemones auf Arte

Wer etwas über skurrile chilenische Jugendkulturen erfahren möchte und späte Sendezeiten nicht scheut, ist herzlich eingeladen, am Samstag um 1.45 Uhr (also Sonntag) einen Beitrag im arte-Magazin "Tracks" über die Pokemones zu verfolgen. O-Ton Arte:

Pokemones: Sexuelle Revolution bei den chilenischen Kids

In Europa flößt das "Emo"-Phänomen den Eltern Angst ein: Grell ge­schmink­te Teenager, die der Bisexualität frönen und mit morbiden Grup­pie­rung­en sympathisieren, sorgen bei den Erwachsenen für Un­be­ha­gen. In Chile gilt die Bewegung, die dort "Pokemone" genannt wird, als so skandalträchtig, dass sogar die Fernsehnachrichten als Aufmacher darüber berichten. In einem erzkatholischen Land, dessen kulturelles Leben noch immer von den Jahren der Diktatur geprägt ist, zeigen sich die Pokemones ungeniert in öffentlichen Parks, wo sie nicht selten Opfer rechtsextremer Skinheads werden. Das Kamerateam von "Tracks" hat sich in den Straßen Santiagos und in den Diskotheken der chilenischen Jugend umgeschaut, wo der "Ponceo" getanzt wird - ein Tanz, der das Liebesspiel imitiert. Und traf auf eine neue Generation, die sich mit allen Mitteln von den Fesseln der Zensur und der moralischen Unterdrückung befreien will.


Der erwähnte Tanzstil heißt übrigens "Perreo" und nicht "Ponceo" - bei letzterem handelt es sich um das im Rausch des Reggaeton fast schon sportlich betriebene promiske Knutschen und Rummachen. Naturgemäß ist das Thema in den chilenischen Medien selbst längst durch, aber das Phänomen der schwarzbunten, androgynen Jugendlichen (die man an­ders­wo vermutlich unter Visual Kei kategorisieren würde) lebt erst einmal weiter.

Auf die sexuelle Experimentierlust der jungen Chilenen war die New York Times schon vor einer Weile gestoßen und hatte ein wenig gründlicher recherchiert - denn die vom Internet beflügelte neue Freizügigkeit be­schränkt sich keineswegs auf die zahlenmäßig überschaubare Grup­pe der pokemones.

Sonntag, 24. Mai 2009

Marco, el fenómeno



Der Mann ist 35 Jahre jung, Abgeordneter der Sozialistischen Partei Chi­les und will im Dezember Präsident werden. Nicht von seiner Partei, son­dern von Chile. Seine Chancen stehen besser, als man vermuten könnte.

Marco Enríquez-Ominami heißt der Mann, der die Chefs der regierenden Concertación (darunter die Sozialisten) als "Dinosaurier" bezeichnet. Der glaubt, die "Lösungsansätze der 70er-, 80er- und 90er-Jahre" hätten "weder die Kraft noch ausreichend Legitimität, um radikale Reformen einzuleiten". Seine eigenen Lösungsansätze sind im Netz unter www.marco2010.cl nachzulesen: mehr Solidarität und weniger Neo­li­be­ralismus, mehr Demokratie und Transparenz, bessere Rechte für Ar­beit­nehmer und Verbraucher, bessere Bildung, konsequenterer Um­welt­schutz. Ganz so radikal klingt das nicht, aber wegen Enríquez-Ominami kriegt derzeit mancher Politiker der Concertación täglich büschelweise graue Haare.

"Marquito", wie ihn Camilo Escalona, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, einmal abfällig genannt hat, strebt das höchste Amt der Republik nämlich ohne den Segen der regierenden Koalition an. Die schickt gegen den Kandidaten der Rechten, Sebastián Piñera, den Christdemokraten Eduardo Frei ins Rennen, der das Land bereits zwischen 1994 und 2000 regiert hat. Nicht gerade ein frischer Wind, der da von Mitte-Links weht, und das will Enríquez-Ominami ändern. Aber wer stärkt ihm dabei den Rücken?

"Hinter mir steht eine große Gruppe aus Abgeordneten, Stadträten, Bürgermeistern, Intellektuellen, Akademikern, Kulturschaffenden, Öko­no­men, jungen und nicht mehr so jungen Leuten, die mit mir ein Pro­jekt der Veränderung durchsetzen wollen", sagt der Mann, der sich gern mit nachlässiger Geste durch den pechschwarzen Schopf fährt, spricht wie ein Maschinengewehr und bunte Krawatten trägt, die immer ein bisschen zu locker sitzen. Man rechnet ihn im Parlament zur Gruppe der díscolos, der "widerspenstigen" Con­cer­ta­cionistas. Enríquez-Ominami spricht oft von einer gemischten Bi­lanz der Concertación, für die er selbst ja auch im Kongress sitzt. Für ihn stimmt zwar die Richtung, aber nichts geht schnell genug und zu viel geht schief. Schuld daran: Bürokratie, Vetternwirtschaft, mangelnde Begeisterung. Diesen Diskurs teilt er mit Piñera, und deshalb glauben manche Demoskopen, dass er auch dem rechten Unternehmer ein paar Prozente stehlen könnte.

Dass der Mann mit dem sperrigen Namen im politischen Zwei-Lager-Land Chiles überhaupt eine Außenseiterchance haben könnte, verdankt sich unter anderem seiner Biografie. Enríquez-Ominami hat zwei Väter: Sein biologischer war Miguel Enríquez, Anführer des MIR und bis heute eine linke Ikone. Nach dem Putsch versuchte er, einen bewaffneten Wi­der­stand zu organisieren, 1974 wurde er in Santiago von Pinochets Ge­heim­po­lizei erschossen. Da war Marco gerade ein Jahr alt. Adoptiert hat ihn Carlos Ominami, ebenfalls MIR, der sich im Exil freilich gründlich "reformierte", später als Wirtschaftsminister das neoliberale Erbe der Diktatur verwaltete und inzwischen als Senator im Kongress sitzt. Zwei sehr unterschiedliche Strömungen, wenn man so will, die sich auf irgendeine Weise in der Figur Enríquez-Ominamis vereinen.

Und das ist noch nicht alles: Enríquez-Ominamis Frau, die blonde, deutschstämmige Fernsehmoderatorin Karen Doggenweiler, bringt einen gehörigen Schuss Promi-Glamour mit in die Kandidatur. Die beiden kennen sich aus dem TV-Geschäft, denn Ehemann Marco ist aus­ge­bildeter Regisseur und hat jahrelang Fern­seh­pro­duk­tionen, aber auch ein paar Kinofilme gedreht.

Noch ist es freilich gar nicht so weit. Vor die Zulassung einer unabhängigen Kandidatur setzt die chilenischen Verfassung eine Un­ter­schrif­ten­sammlung. 36.000 Marco-Anhänger müssen in einem No­ta­riat erscheinen und nachweisen, dass sie keiner Partei angehören und ins Wählerregister eingetragen sind. In Chile, wo viele junge Menschen das Interesse an der Politik verloren haben und sich nie ins Register haben aufnehmen lassen, ist das kein so einfaches Unterfangen. Auf genau diese Gruppe zielt Enríquez-Ominami aber ab, und ein Viertel der Unterschriften ist aber schon zusammen.

Was den widerspenstigen Sozialisten inzwischen zum "Phänomen Marco" gemacht hat, ist sein außerordentlich gutes Abschneiden in den Umfragen. Die letzten sprechen von zehn Prozent Unterstützung oder mehr, eine bescheinigte ihm sogar, er würde bei einer Stichwahl gegen Sebastián Piñera besser abschneiden als sein Mitbewerber Eduardo Frei. Dem hat Enríquez-Ominami kürzlich angeboten, sich in landesweiten primarias zu messen, nachdem er von den offiziellen Vorwahlen in der Concertación durch eine kurzfristige Änderung der Statuten ausgeschlossen worden war. Frei lehnte natürlich ab.

Ob am Ende tatsächlich zwei Kandidaten aus dem Spektrum der Concertación ins Rennen gehen, ist völlig offen. Täglich bekommt der junge Herausforderer Gegenwind, aber auch neue Unterstützer. Sein Vater, der Senator, steht zum großen Ärger der sozialistischen Spitze hinter ihm, und auch Ex-Präsident Ricardo Lagos (2000-2006) findet, man solle seine Kandidatur zumindest in Betracht ziehen.

Es kann aber auch schnell wieder vorbei sein mit "Marco 2010" - wenn erst einmal die konkreten politischen Ideen bekannt werden, die er und sein Team hegen. Vor zwei Wochen präsentierte er einen "Wirtschaftsplan", der viele Linke aufheulen ließ: Enríquez-Ominami schweben da weitere Teilprivatisierungen von Staatsunternehmen vor, sogar der sakrosankten Codelco, mit der der Sozialist Salvador Allende einst den für Chile immens wichtigen Kupferbergbau sozialisierte. Der Christdemokrat Eduardo Frei, dessen Vater schon vor Allende mit der Nationalisierung des Kupfers begonnen hatte, schlug denn auch gleich tief in diese Kerbe: "Wir wollen Codelco auf gar keinen Fall privatiseren. Das Unternehmen soll in den kommenden Jahren expandieren und dem Land wichtige Einnahmen verschaffen, die es dringend für den Schutz der sozial Schwachen braucht." Dieser Punkt ging an Frei.

Dienstag, 19. Mai 2009

Doch kein Schwein gehabt


Grusel, grusel: Nun hat die Schweinegrippe auch Chile erwischt. Freilich ist hierzulande aus der influenza porcina längst eine influenza humana geworden. Was aufklärend wirken soll - schließlich handelt es sich nicht um ein Problem von Tieren - klingt reichlich absurd, denn jede Grippeepidemie unter Menschen ist letzt­lich eine "Menschengrippe".

Ganz oben auf den Onlinezeitungen und Nachrichtenportalen ticken jetzt die Zähler. Am Dienstagabend gab es 10 bestätigte Fälle, 17 Verdachtsfälle und - da zu beiden Gruppen etliche Kinder gehören - 7 Schulen, an denen vorläufig kein Unterricht stattfindet. Dabei handelt es sich auschließlich um private und recht exklusive Einrichtungen wie das Bertait College, das Instituto Hebreo, die Lincoln International Academy und die British Royal School. Weil Mexiko, die Karibik und die USA, wo derzeit die höchste Ansteckungsgefahr herrscht, beliebte Kurz­rei­se­ziele für reiche Chilenen sind, spielt sich das epidemische Geschehen bis­lang auch nur in Santiagos Reichenvierteln ab. Von Dauer dürfte dieser soziale Bias eher nicht sein.

Der Gesundheitsminister versucht zu beruhigen. Mal sehen, wann die Atem­schutz­masken hier unten ausverkauft sind.

Montag, 18. Mai 2009

Leichte Mängel

Bei uns um die Ecke hat vor ein paar Wochen ein Hallenbad aufgemacht, da geht B. jetzt zum Schwimmunterricht. Es handelt sich vielleicht nicht um das einzige, aber vermutlich um das größte überdachte Becken von Puerto Montt. Freilich darf man sich jetzt nichts Falsches vorstellen: In Deutschland werden Schwimmbäder von der öffentlichen Hand oder Großinvestoren errichtet, Planung und Bau nehmen Jahre in Anspruch. Hier dauert so etwas drei, vier Monate. Der Besitzer eines Indoor-Spielplatzes hat einfach angebaut: untenrum ein bisschen Beton und blaue Farbe, obenrum eine leichte Metallkonstruktion, verkleidet mit transparenten Kunststoffplatten. Umkleiden, Duschen, fertig.

Auf den ersten Blick sah das frisch eröffnete Schwimmbad gut aus, hell, klare Formen, das Wasser temperiert und mutmaßlich sauber. Ausreichend hygienisch dürfte es tatsächlich sein, so weit reicht mein Vertrauen in die hiesigen Behörden. Der Schwimmbetrieb dagegen ist ein Inferno, zumal jetzt im Winter. Mangels Lüftung steht der Wasserdampf schnittfest in der Halle, an den dünnen Plastikwänden kondensiert er in rauen Mengen. Überall tropft es. "Heute habe ich einen Ball an die Decke geworfen, da regnete es plötzlich", freut sich B. diebisch. Auch sonst entpuppt sich das Bad als Summe von Fehlplanungen, Baumängeln und Sparen am falschen Ort: In Ermangelung schallschluckender Elemente dröhnt der Raum schon, wenn nur eine Handvoll Kinder im Becken tobt, der Fußboden ist mit scharfkantigen Steinen ausgelegt, an denen man sich die Füße verletzt, die Sitzbänke für Eltern sind aus rohem Holz gezimmert und schimmeln in der Feuchtigkeit, in der Umkleide gibt es weder Haken noch Fächer.

Man muss sich darüber natürlich nicht aufregen, man muss nur einfach nicht mehr hingehen. Es gibt sogar eine gute Alternative, 20 Kilometer entfernt. Aber dieses Schwimmbad ist ein nettes Beispiel dafür, wie Unterentwicklung aussieht - in einem Land, das im regionalen Vergleich außerordentlich gut dasteht. Der Widerspruch zwischen erstem Anschein und fehlender Substanz hat viele Gründe - ein gesteigertes Profitinteresse des Betreibers, mangelnde Normen, Standards und Kontrollen, aber auch ungelernte (sprich: billige) Arbeitskraft.

Das europäische, zumal deutsche Auge sieht natürlich ständig solche Dinge. Falsch markierte Straßen. Häuser ohne Isolierung. Schlecht verarbeitete Installationen aller Art. Kabelwirrwarr. Metertiefe Löcher auf dem Gehweg. Undsoweiter. Man kann damit auch ganz gut leben - wenn man seine Wahrnehmung ein wenig schärft, umsichtig handelt und nie erwartet, dass alles (oder auch nur irgendetwas) perfekt ist. Und ebenso schnell, wie jemand ein Schwimmbad aus dem Boden stampft, wird hier auch ein Loch in der Straße geflickt, wenn die Lokalzeitung sich erst einmal empört und ein großes Foto abdruckt.

Weniger harmlos ist es, wenn das Leben oder die Gesundheit von Menschen auf dem Spiel stehen. Wie in Chiles öffentlichen Krankenhäusern, die zwar in den vergangenenen Jahren deutlich besser geworden sind, aber weiterhin vor allem qua Mangelwirtschaft und Improvisation funktionieren. Etwa im Krankenhaus von Talca, wo gerade aufgedeckt wurde, dass auf der neurochirurgischen Ab­tei­lung die Schädel mit einem Bohrer aus dem Baumarkt trepaniert wurden. Da­ge­gen steckt man eine im Schwimmbad aufgeschürfte Fußsohle doch locker weg.

Benedetti tot

Mario Benedetti ist tot. Der uruguayische Schrift­steller starb am Sonn­tag­abend 88-jährig nach langem chronischen Leiden in seiner Woh­nung in Montevideo.

"Die Weltliteratur hat einen schmerzlichen Verlust erlitten”, sagte der Autor Mauricio Rosencof, der die Kulturabteilung der Stadtverwaltung von Montevideo leitet, gegenüber der Zeitung Observa. "Aber die viel­leicht tiefgründigste Botschaft, die uns Benedetti hinterlässt, lautet: Das Ver­gessen ist voller Erinnerung." .

Zu Benedettis wichtigsten Werken gehören der Roman Gracias por el fuego (1965), die Erzählungen Con y sin nostalgia (1977), die Gedichte Viento en el exilio (1981) und Theaterstücke wie Pedro y el capitán (1979). Nach dem Militärputsch von 1973 verbrachte Benedetti, der die marxistische "Bewegung des 26. März (M26)" mitgegründet hatte, zehn Jahre im Exil, unter anderem auf Kuba und in Spanien.

“Benedettis Werk ist zweifellos ein fester Bestandteil der spa­nisch­spra­chigen Literatur", so Rosencof. "Es gibt keinen Sänger, der nicht eines seiner Gedichte vertont hätte. In seiner Literatur spiegelt sich die Tiefenstruktur unserer nationalen Identität wider."

Hier ein Ausschnitt aus El lado oscuro del corazón von Eliseo Subiela, der 1993 im Berlinale-Forum lief. Benedetti, dessen Gedichte neben denen von Juan Gelman und Oliverio Girondo eine zentrale Rolle im Film spielen, hatte hier einen skurrilen Cameoauftritt als schwermütiger Ka­pi­tän (?), der Benedetti-Gedichte rezitiert - auf Deutsch!

Donnerstag, 14. Mai 2009

Das große Graben

Bolivien hat ein Problem, seit 1879: Es fehlt der Zugang zum Meer. Seit hundertdreißig Jahren schwelt der Territorialkonflikt mit dem Nachbarn Chile, der im ersten Jahr des Salpeterkriegs die bolivianische Küstenregion um Antofagasta annektierte. Kein Schnee von gestern, jedenfalls nicht für Bolivien: Die Verhandlungen mit Chile über freien Zugang zum Pazifik stehen auf der Agenda von Präsident Evo Morales ganz oben.

Jetzt haben drei chilenische Architekten ihrem Außenminister Mariano Fernández einen verblüffend einfachen Vorschlag zur gütlichen Lösung des Konflikts unterbreitet: Bolivien baut einfach einen hundert Kilometer langen Tunnel zum Pazifik - genau unter der Grenzlinie zwischen Chile und Perú. Das unterirdische Viadukt transportiert gleich auch noch Gas und Öl und endet auf einer künstlichen Insel vor der chilenisch-peruanischen Küste, die mit dem Aushub aufgeschüttet wird. Dass da vorher noch keiner drauf gekommen ist.

Man könnte die Idee als Albernheit abtun, wären ihre Urheber nicht durchweg renommierte Architekten. Einer der drei, Fernando Castillo Velasco, wird dieses Jahr 91 und hat in den Sechzigern Santiagos erste Hochhäuser projektiert, später war er Rektor der Universidad Católica de Chile, prominenter Gegner der Diktatur und Politiker. Außenminister Fernández hat denn auch anstandshalber den Tunnelplan entgegengenommen und Castillo Velasco mitsamt Kollegen zu einem Gespräch eingeladen. Es handele sich schließlich um "interessante Vorschläge mit avantgardistischem Charakter", bei denen es um die Einheit Lateinamerikas gehe.

Natürlich ist ein Projekt dieses Ausmaßes für ein Land wie Bolivien völlig unbezahlbar, technisch extrem problematisch und überhaupt eine Absurdität. Aber vielleicht war ja genau dies das Ansinnen von Castillo Velasco und Co. - ein wenig Bewusstsein für den absurden zwischenstaatlichen Konflikt zu schaffen?

Dienstag, 12. Mai 2009

Vom Heizen

Das Leben mit einer Holzheizung verändert die Wahrnehmung. Nicht gemeint ist hiermit das gesteigerte Kälteempfinden angesichts einer einzigen Wärmequelle, die das gesamte, schlecht isolierte Haus auf erträgliche Temperaturen bringen muss, sondern der taxierende Blick auf Objekte, den man entwickelt: Ob sich das da verheizen ließe? Ein kaputter Stuhl ist zu Hause in Berlin ein kaputter Stuhl. Hier wird er zum potenziellen Kalorienspender.

Nicht so gut ist natürlich, dass ein Stuhlbein Lackschichten tragen kann, bei deren Verbrennung womöglich viel schädlichere Substanzen aus dem Schornstein entweichen als Feinstaub und Kohlendioxid. Genaues weiß man da natürlich nicht. Aber normalerweise kommen auch nur gepresste Sägespäne in unseren Ofen. Mit der Zeit haben wir den jeweiligen Charakter der verschiedenen Brikettsorten verinnerlicht: Die eckigen sind locker gepresst, lassen sich strategisch günstig aufschichten, brennen schnell an und hinterlassen wenig Asche, haben aber nur einen begrenzten Brennwert. Die mitteldichten runden plustern sich beim Brennen auf und füllen den Ofen im Handumdrehn mit Asche, machen dafür aber mächtig Hitze. Vertut man sich bei ihrer Dosierung, schmort die Wand an. Edel, steinhart und teuer sind die dunkelbraunen langen, die wunderbar gleichmäßig und heiß verbrennen - nur kriegt man sie verdammt schlecht angezündet.

Variantenreich sind denn auch die Brandbeschleuniger: Vom Grillanzünder über zerknüllte Fehlkopien des Unterrichtsmaterials ist alles möglich, ich persönlich schwöre auf ein Stück Haushaltskerze, eingewickelt in ein Tempotaschentuch. Natürlich wandern Zeitungen ebenfalls durch die Klappe, auch deutsche. Interessant: Die neue, bunte taz und Springers B.Z. (eine Freundin ließ mir dankenswerterweise den Titel "1. Mai in Kreuzberg: Die Hass-Nacht" zukommen) verbrennen gleichermaßen gut und vollständig. Anders dagegen der Tagesspiegel, den S. hin und wieder von einer Schülerin zugesteckt bekommt, deren Großvater ihn seit Menschengedenken mit der Post bezieht. Das Holtzbrinck-Blatt brennt langsam, regelrecht tranig, und hinterlässt massenhaft schwarze Rückstände.

Sonntag, 10. Mai 2009

Teuer gratis surfen

Screenshot: www.telefonicachile.cl

Chile ist vernetzter als jedes andere lateinamerikanische Land, so viel steht fest. Die Dichte hochwertiger, also schneller Internetanschlüsse ist enorm, aber noch bleiben große Lücken in der Fläche. Vor allem ärmere Haushalte können es sich nicht leisten, sich das Netz ins Haus zu holen - aber jetzt hat sich Telefónica Chile, Tochter der spanischen Telefónica und landesweit größter Anbieter, etwas ganz Innovatives ausgedacht und seit Wochen aggressiv beworben: Banda Ancha Libre heißt es, sprich: Breitband für lau. "Surf gratis - und das für immer" lautet der Slogan, und beim Produkt-Launch in der vergangenen Woche war auch Pablo Bello da, Staatssekretär für Telekommunikation, der sich persönlich als Speerspitze der Digitalisierung versteht und im Vorstand der Stiftung País Digital sitzt.

Inzwischen haben viele aufmerksame Blogger das Kostenlos-Internet analysiert (hier, hier oder hier ) und als großen Schwindel gebrandmarkt. Dass man für einmal Modem-Kaufen à 29.900 Peso (knapp 40 Euro) mitnichten einen lebenslangen Freipass ins WWW, sondern bloß ins Chilean Wide Web erhält, ist der Werbung zumindest noch klar zu entnehmen: Nur Sites mit der Länderkennung ".cl" kann man gratis ansteuern, da fällt das meiste, was heute so Spaß macht - von Youtube bis Facebook - schon mal weg. Weniger deutlich erkennbar ist, dass sich der Zugriff auf dieses chilenische Intranet mit 300 kbps ehrlicherweise kaum als "Breitbandzugang" definieren lässt. Richtig gemein wird es bei den Bedingungen, unter denen die Frei-Nutzer ihren Zugang temporär aufs Weltnetz ausdehnen und gleichzeitig beschleunigen können. Das wird nämlich ganz schnell ganz teuer, und hätte Telefónica nicht eine Kappung bei 15.000 Pesos (30 Euro) pro Monat eingebaut, landeten die armen Billigsurfer ganz schnell in der Schuldenfalle.

Den ganz Armen bleibt für die Überwindung der "digitalen Kluft" immerhin der Gang in eines der vielen telecentros comunitarios, wo sie (auch bei uns in Puerto Montt) kostenlos ins Netz eingewiesen werden und surfen können - völlig kostenlos.

Mittwoch, 6. Mai 2009

Flores macht rüber

Foto: Chile Primero

Die Präsidentschafts-Kampagne von Sebastián Piñera hat einen neuen Un­ter­stüt­zer. Und nicht irgendeinen: Mit Fernando Flores Labra springt ein Mann auf den Zug der Rechten auf, der nicht nur Finanzminister unter Allende war, sondern auch von 1973 bis 1976 in verschiedenen Straflagern der Diktatur zubrachte, unter anderem auf der Isla Dawson.

Am Mittwoch ist Flores seinen ganz persönlichen Pakt mit den politischen Erben seiner Verfolger eingegangen. Der 66-jährige Senator, dessen achtjähriges Mandat im kommenden Jahr endet, hat seine Bewegung Chile Primero einer "Coalición del Cambio" hinzugefügt, der vor allem Piñeras Partei Renovación Nacional und die ultrarechte UDI angehören. Er selbst, ursprünglich Sozialist, war vor zwei Jahren aus der sozialdemokratischen Demokratie-Partei (PPD) ausgetreten, die zusammen mit der sozialdemokatischen Radikalen Partei (PRSD), der sozialdemokratischen Sozialistischen Partei (PS) und der sozialdemokratischen Christdemokratischen Partei (PDC) das Regierungsbündnis Concertación bilden. Sein Vorwurf: In der Koalition herrschten ein Klima der Korruption und eine "Kultur der Mittelmäßigkeit".

Da erwartet Flores vom erfolgreichen Finanzjongleur Piñera offenbar frischen Wind. "Die Concertación hat sicher auch Gutes geleistet, aber heute ist es Zeit für sie, Abstand von der Macht zu nehmen,sich zu reinigen und neu zu erfinden", so der Senator in seiner Rede vor seinen neuen Koalitionären. "Wir sehen heute, dass Chile sich trotz aller berechtigten Hoffnungen nicht auf der Höhe der Zeit befindet und viele Träume nicht in Erfüllung gegangen sind." Seiner ehemaligen Genossen eingedenk sprach Flores von "Trenunngsschmerz". Viele würden seinen Schritt nicht verstehen, aber er lasse sich nicht moralisch erpressen.

Die Vorstellung, man müsse sich in Chile zwischen links oder rechts entscheiden, sei obsolet, so Flores, der schon immer ein Faible für Zukunftstechnologien hatte und seine Politik per Blog, Facebook und Twitter kommuniziert. Der Vorsitzende seiner ehemaligen Partei PPD, Pepe Auth, kann das natürlich nicht nachvollziehen: Viele von Flores' früheren Freunden würden sich ob dessen Stellungswechsel "im Grab umdrehen". Mit seiner Entscheidung, so Auth, gebe Flores seine Identität völlig auf. "Ich hoffe nur für ihn, dass ihn sein Gewissen noch ruhig schlafen lässt." Die Journalistin Zorka Ostojic aus Arica, die in den ver­gangenen Jahren an dem von Flores initiierten Bügerbeteiligungs-Portal Atina Chile mitgewirkt hat, findet dessen Entscheidung falsch, denkt aber, dass der Senator durchaus konsequent handelt: Er glaube offenbar, sein Modernisierungsprojekt "an der Seite von Piñera ver­wirk­li­chen zu können. Bloß ist sein Image in Chile jetzt zerstört."

Wie man sich mit den neuen Medien ganz schnell ein Eigentor schießen kann, hat Flores heute gelernt: Die Fragen, die ihm ein Moderator von CNN Chile zu seiner Neupositionierung stellte, gefielen ihm gar nicht, und so raunzte er, als er die Kameras abgeschaltet glaubte, den Mann böse an: "Jetzt hast du's dir mit mir verscherzt mit deinen bescheuerten Fragen. Ein Jahr lang kriegst du kein Interview mehr von mir." Das wurde Minuten später herumgetwittert, und natürlich kann man es sich auch auf Youtube ansehen. Flores behauptete anschließend, es habe sich um ei­nen Scherz gehandelt.


Samstag, 2. Mai 2009

Der erfrischendste Snack der Welt


Mit der Zeit haben wir gewisse Rituale für unsere Kurzurlaube in Santiago entwickelt. Eins davon ist der Flohmarkt-Besuch. Santiago ist ein Paradies für Flohmarkt-Fans, auch wenn sich viele der Fundgruben in marginalen Stadtteilen auftun, die Besucher ohne Orts- oder gar Sprachkenntnis besser meiden sollten. Mercado persa nennen die Chilenen ihre Straßenflohmärkte oder einfach persa, und ein bisschen passt das schon, denn wie in einem orientalischen Suq erstrecken sie sich über ganze Viertel, auch wenn die mehr oder minder primitiven Stände mitsamt Sonnensegel am Nachmittag wieder abgebaut werden.

Nicht dass man auf dem persa großartige Entdeckungen machen könnte - wertvolle Autographen gibt es hier ebenso wenig wie filigranes Kunsthandwerk. Trotzdem findet sich in diesen unglaublichen Sammelsurien immer irgendetwas Interessantes: Vorhängeschlösser, ein Brennglas, Rohrzangen, Pumps, ein wiederbefüllter Feuerlöscher, Wellensittiche, alte Münzen, Sprungfedern, ein Atari-Computer, Briefbeschwerer, das Plastikfiguren-Sortiment aus dem Happy Meal vom letzten Frühjahr, Push-up-BHs, Weltliteratur, Kuhhörner und eine Kiste voll Schwangerschaftstests mit überschrittenem Verfallsdatum. Dazu unendlich viele Menschen, streunende Hunde, Lärm und Hitze - es ist großartig.

Vieles ist Ausschuss ärmlichster Lebensbedingungen und liegt nur auf Tüchern am Boden, aber selten hat man den Eindruck, dass hier bloß Müll verkauft wird. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass man seine Erwartungshaltung den Umständen entsprechend herunterschraubt.

Hat man ein wenig geguckt und gefeilscht und vielleicht sogar irgendetwas Überflüssiges für einen lächerlichen Preis gekauft, ist es Zeit für den fabelhaftesten und erfrischendsten Snack der Welt: mote con huesillos. Nie­mand weiß genau, wem wann der sonderbare Einfall kam, getrocknete Pfir­siche zu einer Art Kaltschale aufzukochen und eisgekühlt in einem Glas zu ser­vie­ren, das man vorher zur Hälfte mit Graupen gefüllt hat. Genau: Wei­zen­grau­pen, die leicht seifig schmecken und beim Kauen ein wenig zwischen den Zähnen quietschen. Aber die Mischung ist umwerfend. Man kann mote con huesillos auch in der Fußgängerzone im Zentrum trinken (bzw. essen), aber auf einer wackeligen Holzbank das Menschengewimmel des persa an sich vor­bei­zie­hen zu lassen und dem mote-Mann zuzuschauen, wie er den Saft mit einer Kelle aus einem tiefen Topf wie aus einem kühlen Brunnen schöpft, ist einfach grandios.

Freitag, 1. Mai 2009

Öko-Kolonialismus?

Auf Erstermaiwochenendreise in Santiago reicht die Zeit kaum zum Bloggen. Des­halb stelle ich heute mal einen interessanten Kommentar hier hinein, den ein mir un­be­kann­ter Stefan in Reaktion auf diesen Post vom Februar geschrieben hat. Und da findet den ja doch keiner mehr.

Wie Du ein Chilebewohner auf Zeit, verbringe ich meinen Nach-Sommerurlaub in Patagonien und genieße den üppigen Regen, den ich in Santiago und Chillán den Sommer über schwer vermisse. Als Tourist stößt man ständig auf die "Patagonia sin Represas"-Banner, in jedem Hostal kleben sie an der Fensterfront. In der Tat glaube ich, dass der Tourismus bei dem Projekt nur verlieren kann. Aber wenn man die Situation landesweit betrachtet, sieht es für mich etwas differenzierter aus. Die Sechs-Millionen-Stadt Santiago braucht Energie, und Gaslieferungen aus Argentinien und Bolivien haben sich als noch weit unzuverlässiger erwiesen, als etwa die russischen, an denen Deutschland hängt.


Noch mehr politischen Druck für eine zuverlässige Energiequelle als die Ein­woh­ner von Santiago macht die Bergbauindustie weiter im Norden. Mehr als 3000 Kilometer entfernt von Patagonien wollen sie ihre Förderbänder am Laufen halten. Der Bergbau ist der am weitesten wichtigste Wirtschaftszweig in Chile. Wenn Hydroaisén nicht zustande kommt, dann wollen sie ein Atomkraftwerk - für mich eine weit mehr erschreckende Vorstellung als die Staudämme am Rio Baker. Chile ist ein hochaktives Erdbebengebiet - von allen anderen Problemen der Atomenergienutzung mal ganz zu schweigen.

Natürlich erscheint es auch mir erstmal absurd, Energie über tausende von Kilometern zu transportieren. Die einzig wünschenswerte Alternative, die ich sehe, wäre die lokale Nutzung von Sonnen- und Windenergie. Das hätte zudem den Vorteil, dass in einem Land, in dem der Reichtum so ungleich verteilt ist, ganz viele die Chance hätten, zum Energie-Kleinerzeuger zu werden. Erst gestern hat mit ein Mann in Puyuhuapi stolz seine 3-Kilowatt-Turbine vorgeführt. Er musste nur ein Rohr 30 Meter weit über dem Wasserfall installieren (in Patagonien besitzt jeder zweite einen eigenen Wasserfall :-)). Ab Santiago und weiter nördlich scheint die Sonne fast alle Tage im Jahr. Idealbedingungen für alternative Energien!

Wenn ich jedoch dem Bergwerks-Boss von diesen Möglichkeiten erzähle, wird er vermutlich nur die Augenbrauen hochziehen und fragen: "Und wo kann ich ein 100-Megawatt Solarkraftwerk kaufen? Was treibt meine Maschinen an, wenn der Wind nicht weht?" An der Beantwortung dieser Fragen arbeitet man auch in Europa noch mit Hochdruck.

Etwas anderes kommt mir noch in den Kopf, wenn ich die "Patagonia sin Represas"-Kampagne beobachte, die ja, wie Du schreibst, offenbar im Ausland noch stärker wahrgenommen wird als in Chile selbst. Das Stichwort ist Öko-Kolonialismus. Warum, frage ich mich, darf Chile keine Staudämme in seine Fjordlandschaften bauen, wo doch Norwegen weithin als Energie-Musterknabe gilt, weil es seinen Energiebedarf praktisch komplett durch Wasserkraft abdeckt. Wie ich vor kurzem las, verkaufen die Norweger ihren überschüssigen Strom bis nach Holland. Eine Unterwasser-Gleichstrom-Hochspannungsleitung wurde dafür in der Nordsee verlegt. Das dürften auch so an die 1500 Kilometer sein.

Vielleicht ist der Grund der folgende: Viele reiche Ausländer haben in Patagonien Landbesitz. Vielerorts kostet es immer noch Spottpreise, und der Erwerb ist für Ausländer relativ unproblematisch. Noch mehr kommen als Touristen aus Eu­ro­pa, den USA und Irael. Mir kommt es so vor, als würden sie ihr Idyll nicht gerne von den Entwicklungsbedürfnissen ihres Gastlandes gestört sehen und sich von Hochspannungsmasten irritieren lassen, wenn sie die Angel schwingen, um 20 Kilo schwere Lachse aus dem Fluss zu ziehen.

Da ist sicher einiges dran.