Immer wenn wir von Puerto Montt nach Santiago fahren, scheint es mir ein wenig, als kämen wir gerade erst wirklich in Chile an. Das mag einerseits an den tiefen Freundschaften liegen, die uns mit dieser Stadt verbinden, es ist aber auch ein bisschen gesellschaftliche Realität: Die Metropole ist Essenz und Spiegelbild des gesamten Landes, alle sozialen, ökonomischen, ethnischen Widersprüche treten hier zu Tage, alles wird hier gebündelt und transformiert, hier kann man den Boom und das Elend besichtigen. Hier ist die Politik, hier ist das Geld, hier ist die Kultur. Die Stadt ist im brutalstmöglichenen Sinne up to date und gleichzeitig voller Nischen, in denen kaum die Zeit vergeht. Neben anderen lateinamerikanischen Megastädten mag Santiago mit seinen 6 Millionen überschaubar sein, verglichen mit der Provinz ist es ein Gigant - und trotz aller drängenden Umweltprobleme will die Expansion nicht stoppen.
Santiago hat keinen guten Leumund, weder bei ausländischen Besuchern noch bei den Chilenen aus der Provinz. Selbst viele Hauptstädter verzweifeln an den überbordenden Dimensionen ihrer Stadt, dem Smog, dem Dauerstau, den Entfernungen, dem Tempo. Mir hingegen reicht schon eine Stunde auf der Plaza de Armas, um all diese Nachteile zu kompensieren. Es gibt so viele Menschen zu sehen: Schüler und Geschäftsleute, Penner und Liebespaare, die Schachspieler im Pavillon, die Fotografen, die Erdnussröster, die Schuhputzer. Die Peruaner vor der Kathedrale, die Witzeerzähler, die Maler. Der Mann ohne Beine, der sich auf einem Brett durch die Menge schiebt, die berittenen Polizisten. Der Prediger, der allen Passanten, die sich nicht auf der Stelle bekehren, ewiges Höllenfeuer prophezeit. Menschen mit einem Ziel und ohne eines, Käufer und Verkäufer, Taschendiebe, Flaneure. Auf diesem einen Fleck herrscht mehr Urbanität als in hundertzwanzig deutschen Innenstädten zusammen. Sollte ich gerade ins Schwärmen geraten sein?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen