Donnerstag, 3. Juli 2008

Amanda

Kannst Du Dich an den 11. September 1973 erinnern, an das letzte Mal, dass du deinen Vater gesehen hast? Du warst damals gerade acht.

Früher konnte ich mich nicht an diesen Tag erinnern, jetzt ja. Der Fernseher lief, die Sender zeigten Militärparaden. Im Radio lief Allendes Ansprache. Allen stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben, nur meinem Vater nicht. Der war total ruhig. Daran, wie er meine Mutter umarmte, habe ich aber schon gemerkt, dass es nicht gut für uns aussah. Von uns verabschiedete er sich mit einem strahlenden Lächeln: Passt auf euch auf, ich rufe an, macht euch keine Sorgen. Es war ein grauer Tag, ohne jedes Licht.

Das sagt Amanda Jara, die jüngere Tochter von Víctor Jara, in einem Interview, das ich für die Lateinamerika Nachrichten in Berlin übersetzt habe. Vollständig ist es hier zu lesen. Amanda, inzwischen Anfang vierzig, floh mit ihrer Mutter Joan Turner und ihrer älteren Schwester Manuela nach dem Putsch nach London, wo sie zehn Jahre im Exil verbrachte. In dem Gespräch beschreibt sie, wie schwer es für sie war, die Musik ihres Vaters wieder zu hören, wie sie lernte, zwischen Víctor, dem Vater, und Víctor, der linken Ikone, zu unterscheiden, und warum sie nie in Betracht gezogen hat, als Teil einer Künstlerfamilie auf der Bühne zu stehen. Anlass des Interviews waren ihre jüngsten öffentlichen Auftritte im Zusammenhang mit der Einstellung der Ermittlungen im Mordfall Víctor Jara. Vorher hatte sie die Öffentlichkeit immer gemieden.

Die mit der Zahnlücke: das ist Amanda

Die dazu passende Anekdote ereignete sich vor ziemlich genau 15 Jahren und geht wie folgt: S. und eine gemeinsame Freundin hatten bei ihrem ersten Chile-Aufenthalt im Jahr 1992 jemanden aus Quintay kennen gelernt, einem winzigen Fischerdorf, wo Amanda Jara lebte (und auch heute noch lebt). Einmal nahm er die beiden mit, um sie Amanda vorzustellen. Man kennt sich in Quintay, es ist ein herrlich abgelegener Ort, nein: es war ein abgelegener Ort. Inzwischen wurde die Zufahrtsstraße befestigt, und Leute mit viel Geld bauen sich hier exklusive Wochenendhäuser mit Blick auf die donnernde Pazifikbrandung.

Ein Jahr später waren S. und ich gemeinsam in Chile und nutzten die Chance, Amanda noch einmal zu besuchen. Beide kannten wir ihre Geschichte, beide hatten wir Joan Turners Víctor-Jara-Biografie gelesen, ein in den Achtzigerjahren sehr populäres Taschenbuch aus der Reihe rororo aktuell mit dem kitschigen deutschen Titel "Chile, mein Land, offen und wild". So gesehen war die Frau, die uns da einließ (wir waren einfach hingegangen und hatten am Zaun nach Landessitte laut ¡Alo! gerufen) nicht irgendeine burschikose Endzwanzigerin, sondern fast schon ein Mythos. Obwohl sie sich wohl nur undeutlich erinnerte, lud sie uns ein, mit ihr die telenovela zu schauen, und briet uns ein Stück Fleisch. Im Haus sprangen ihre Hunde herum, und als ich mich im Bad frisch machte, entdeckte ich auf der Ablage vor dem Spiegel die Insulinampullen: Amanda ist Diabetikerin, das wussten wir längst aus dem Buch. Jetzt war nur plötzlich alles echt.

Zu sagen hatten wir uns eigentlich nichts. Das heißt: Wir hätten natürlich tausend Fragen gehabt, aber uns war klar, dass man Amanda diese Fragen nicht stellen konnte, ohne ihr gnadenlos auf die Nerven zu gehen. Jedenfalls nicht wir. Deshalb hat diese Anekdote auch keine Pointe. Wir haben uns nie wiedergesehen. Aber das Fleisch war lecker. Und Quintay war wunderschön.

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