Samstag, 25. April 2009

Earth Defenders

Die Welt retten kann so einfach sein: J. hat am Tag der Erde seinen Beitrag ge­leis­tet - und dabei nur ein bisschen übergemalt.

Freitag, 24. April 2009

Drei Linke

An diesem Wochenende kürt die außerparlamentarische chilenische Linke auf ein­er Nationalversammlung in der Universidad de Santiago ihren Prä­si­dent­schafts­kandidaten. Drei stehen zur Wahl: Guillermo Teillier, Vorsitzender der Kom­mu­nis­ten, Jorge Arrate, Ex-Minister der Concertación und jetzt Re­prä­sen­tant der "allendistischen Sozialisten" sowie Tomás Hirsch von der Hu­ma­nis­ti­schen Partei. Zusammen mit anderen Kleingruppen bilden die Frak­tio­nen der drei das Bündnis Juntos Podemos Más (JPM), für das Hirsch 2005 ins Rennen gegangen war und immerhin 5,4 Prozent der Stimmen geholt hatte.

Traditionell ist die Linke zersplittert, und auch diesmal gibt es mindestens zwei weitere Kandidaten, die außerhalb des JPM laufen: Andrés Navarro und Marco Enríquez-Ominami, beides abtrünnige Parlamentarier der immer strom­li­ni­en­för­mi­ge­ren Sozialistischen Partei. Teillier, Arrate und Hirsch zeigten sich vor ihrer Asamblea Nacional de Izquierda allerdings optimistisch: Die Linke, so Arrate bei einer von Talkrunde von Radio La Nación, sei die einzige politische Kraft, die in Chile derzeit Zulauf habe. Und befeuert von der neuen Eintracht, für die die Asam­blea stehe, werde dieser Aufschwung weitergehen.

Hier die Videoaufzeichnung der Debatte (offenbar mit dem Handy gefilmt).

Egal wer das Rennen am Sonntag macht - der klobige Teillier, der silberhaarige Arrate oder der eloquente Hirsch -, er wird für ein gemeinsames Programm stehen, das die 2.000 Delegierten ebenfalls verabschieden sollen. Einige zentrale Punkte darin: eine neue Verfassung, die Einführung des proportionalen Wahlsystems, Einführung plebiszitärer Elemente, Dezentralisierung und Förderung erneuerbarer Energien - alles Maßnahmen, die auch die Concertación seit langem verspricht oder versprochen hat, ohne sie jedoch umzusetzen. Mehr hier.

Foto: La Nación

Mittwoch, 22. April 2009

Estaquilla

Der direkte Weg von Puerto Montt ans Meer ist beschwerlich. Zwar sind es bis zum Ufer der großen Reloncaví-Bucht nur ein paar Minuten, aber der offene Pazifik mit seinen grandiosen Wellen ist auf diesem Breitengrad wenig erschlossen. Des­halb hat es auch über ein Jahr gedauert, bis wir nach Estaquilla gefahren sind - im­mer nach Westen, erst eine Stunde über Asphalt, dann eine weitere über Schot­ter­straßen.

Caleta Estaquilla ist ein winziges Nest zwischen Steilküste und Strand, vielleicht hundert oder hundertfünfzig Menschen leben mehr schlecht als recht von Fisch­fang und Algenernte. Die luga-Alge, die man hier in großen Mengen aus dem Meer holt und am Strand trocknet, wird exportiert und dient andernorts der Her­stel­lung von Carrageen, einem Gelier- und Verdickungsmittel für Ba­by­nah­rung, Mar­me­laden oder Zahnpasta.

Der Küstenstrich rund um Estaquilla ist einsam und touristisch gänzlich un­er­schlos­sen. Trotzdem ist die Landschaft kaum noch ursprünglich: Der alte Baum­be­stand auf den grünen Hügeln ist vielerorts längst gerodet, nur an den un­zu­gäng­licheren Stellen der schmalen Flusstäler wächst noch wilder Urwald. Viel gibt der Boden nicht her, die Kleinbauern, auf deren Höfe man alle paar Kilometer stößt, betreiben extensive Viehwirtschaft. Manchmal weiden die Kühe auch in der Düne, wie in Hua-Huar. Der riesige Sandstrand, der sich im Küstennebel verliert, ist völlig men­schen­leer, die Piste, die ihn erschließt, nur mit Mühe zu befahren. Das Handy hat längst keinen Empfang mehr. Hier unterwegs zu sein ist schön - und gleich­zeitig ein bisschen unheimlich.

Sonntag, 19. April 2009

Der Rauch


Das kleine Haus unter Bäumen am See. / Vom Dach steigt Rauch. / Fehlte er / Wie trostlos dann / wären Haus, Bäume und See. (Bertolt Brecht, Buckower Elegien)

Mit der Wiederkehr des Herbstes ist auch der Feinstaub zurück. Um nichts anderes handelt es sich ja bei dem dichten Rauch, der hier an kalten Tagen aus tausend Rohren quillt. In der "Zeit" war erst kürzlich zu lesen, dass die ungebremst steigende Popularität von Holzheizungen - in Deutschland - einen gefährlichen Anstieg der Feinstaubwerte bewirkt. Freilich handelt es sich drüben oft um High-Tech-Pelletbrenner, während hüben gerne feuchtes Holz im Ofen schwelt. Nicht in unserem, aber das Zeug ist schließlich überall.

Der Zeit-Autor zitiert neueste Untersuchungen von Nanotoxikologen, also Me­di­zi­nern, die die schädlichen Auswirkungen ultrafeiner Partikel im menschlichen Körper erforschen - und die vorläufigen Ergebnisse klingen nicht gut. Zwar liegen bislang mehr Hypothesen als handfeste Erkenntnisse vor, aber manches weist darauf hin, dass Mikrostäube, die die Blut-Hirn-Schranke passieren, um sich im letzteren zu akkumulieren, auf Dauer ein ernsthaftes Risiko darstellen. Zwei Winter in Puerto Montt sollten dafür noch nicht ausreichen, hoffentlich.

Donnerstag, 16. April 2009

Die Einschläge der Krise

Ein Euphemismus, den die Chilenen dieser Tage immer häufiger zu hören bekommen, ist die desvinculación. Früher nannte man das despido, Kündigung. Desvinculación suggeriert so etwas wie "geordnete Ausgliederung aus dem Arbeitsverhältnis", aber der wichtigste Unterschied zum klassischen Auf-die-Straße-Setzen dürfte sich auf sprachlicher Ebene abspielen.

Hier in Puerto Montt kommen die Einschläge der Lachs-Krise immer näher. Besser gesagt: Ein Volltreffer folgt dem nächsten. Gerade hat der Konzern AquaChile (unter den großen Produzenten der einzige mit vorwiegend einheimischem Kapital) die desvinculación von 450 ArbeiterInnen seiner zentralen Verarbeitungsanlage bekannt gegeben. Die Betroffenen erfuhren davon morgens am Werktor. Der Geschäftsführer von AquaChile, Alfonso Márquez de la Plata, ließ verlauten, das Bedauern des Konzernvorstands könne größer nicht sein. Aber der ISA-Virus, der die Fische seit 2007 millionenfach dahinrafft sowie die in den vergangenen Wochen verstärkt aufgetretene "Rote Flut", eine toxische Algenblüte, hätten den Rohstoff - sprich Fisch - im Vorjahresvergleich um 60 Prozent dezimiert.

Den desvinculados will das Unternehmen nach eigenen Angaben Hilfen anbieten, sich rasch wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern - von psychologischer Erstbetreuung über Bewerbungstraining und Unterstützung bei der Jobsuche. Auch die Regierung in Santiago hat gestern angekündigt, Mittel in Höhe von sieben Millionen Euro aufzuwenden, um die Arbeitsmarkteffekte der Lachskrise abzufedern: Beratungsstellen sollen davon finanziert werden, Weiterbildungsmaßnahmen, Beschäftigungsprogramme. Ob das mittelfristig hilft, ist fraglich: Das selbstgemachte ISA-Desaster und die internationale Krise haben nach Gewerkschaftsangaben seit Ende 2007 bereits 17.000 Arbeitsplätze vernichtet.

Derweil hatte der Gewerkschafts-Dachverband CUT am Donnerstag zu Arbeitsniederlegungen und Kundgebungen augerufen, um gegen das Verhalten vieler großer Unternehmen zu protestieren. Die, so die CUT, instrumentalisieren nämlich Krise und Krisenstimmung, um willkürlich zu entlassen oder Löhne zu kürzen. Eine zentrale Forderung der DemonstrantInnen war auch der Aufbau einer neuen staatlichen Altersvorsorge mit garantierten Leistungen. Sie soll das in den Achtzigerjahren geschaffene System der privaten Pensionsfonds (AFP) ersetzen. Viele AFP-Versicherte müssen wegen der weltweiten Kurseinbrüche dramatische Einbrüche ihrer voraussichtlichen Pensionssummen hinnehmen.

Laut CUT nahmen landesweit 135.000 Menschen an den Kundgebungen teil, allein in Santiago 30.000 - das Innenministerium sprach von 15.000 in ganz Chile und 3.000 in Santiago. Dort kam es zu den üblichen Scharmützeln, weil der Demonstrationszug nicht wie geplant über die Alameda ziehen durfte.

Dienstag, 14. April 2009

Pogrom

Fotos: Diario El Llanquihue

Über die gitanos wollte ich schon längst etwas geschrieben haben. Nur ein paar Kilometer von unserem Haus entfernt haben sie ihre Zelte aufgeschlagen. Im letzten Sommer waren es sechs oder sieben, in diesem zwischenzeitlich an die zwanzig, zuletzt nur noch vier. Es sind große, quadratische Hauszelte, bunt gestreift und im oberen Teil mit Sternen oder Monden verziert. Sie stehen auf einem unbebauten, vermüllten Gelände direkt an einer viel befahrenen Kreuzung, dazwischen Pickups und Kleinlaster, spielende Kinder. Eine echte Nomadensiedlung.

Ich schreibe gitanos, weil hier alle gitanos sagen (offenbar auch sie selber), und weil das Wort keinen so negativen Klang hat wie "Zigeuner". Es ist nicht ganz leicht, über sie zu schreiben, zum einen, weil man sie zwar ständig sieht, aber trotzdem wenig über sie weiß, zum anderen, weil man schnell in den Verdacht gerät zu diskriminieren. Die einzigen Begegnungen mit den gitanos sind für gewöhnlich, wenn die Frauen und Mädchen in der Stadt betteln. Eine Art zu betteln, die man gemeinhin als "aggressiv" bezeichnet.

Die Summe aller beiläufigen Beobachtungen könnte lauten: Die chilenischen gitanos bewohnen in jeglicher Hinsicht eine Parallelwelt - und sie haben nicht die Absicht, diese zu verlassen. Genau das - Lebensweisen zu akzeptieren, die nicht oder kaum in die unsere integrierbar sind, weil sie nach einem anderen Prinzip funktionieren - ist ja die größte Herausforderung für jede Antidiskriminierungspolitik. Hier schien das Nebeneinander irgendwie zu funktionieren. Bis Karfreitag.

Auf der anderen Straßenseite des gitano-Lagers befindet sich die población Antonio Varas Norte, vermutlich eine der ärmsten Siedlungen der Stadt und auch eine mit der höchsten Kriminalität. Drogengeschäfte werden hier gemacht, sagt man. Vor einem guten Monat wurde hier ein junger Mann überfahren, der Täter beging Fahrerflucht. In der población ging schon bald das Gerücht um, die gitanos seien Schuld, und an Karfreitag wollte jemand gesehen haben, wie sie das mutmaßliche Tatfahrzeug, einen weißen Pickup, in einem ihrer Zelte versteckten.

Weiße Pickups sind hier freilich Legion (auch wir fahren einen), und nach Angaben der Polizei gibt es bereits deutliche Verdachtsmomente, die mit den gitanos überhaupt nichts zu tun haben. Aber die sind schon gar nicht mehr da: geflohen vor einem Mob aus der benachbarten Siedlung, der sie angriff und mehrere Autos sowie ein Zelt anzündete. Die Feuerwehr wurde an ihrer Arbeit gehindert, schließlich kam die Polizei (die, so die Bewohner des Armenviertels, sich nie für ihre Probleme interessiert hat) und löschte mit dem Wasserwerfer.

Die Politik hat reagiert. Präsidentin Michelle Bachelet, in deren Regierungsprogramm das "Ende jeglicher Form von Diskriminierung" angekündigt wird, will die von dem Pogrom betroffenen Familien empfangen, alle nationalen und regionalen Funktionsträger haben das Geschehene scharf verurteilt, zwei Jugendliche, die mutmaßlich die Brandsätze warfen, wurden verhaftet.

Liest man die zahlreichen Kommentare in Onlinezeitungen oder auf Youtube, kann man einigermaßen beruhigt sein. Offenbar stoßen rassistische Ausschreitungen bei den meisten Chilenen auf einhellige Ablehnung. Und dann erschreckt umgekehrt die Attitüde, mit der manche den Spieß umdrehen: Als "Dealergesindel" und "Proletenpack" werden die pobladores der Antonio Varas Norte beschimpft. Der Tote sei vermutlich sowieso nicht Opfer eines Unfalls, sondern des Angriffs einer rivalisierenden Bande geworden.

Das ganze macht ziemlich ratlos. Eine persönliche Erkenntnis ist freilich mal wieder die, dass Armut nur selten Güte und Solidarität erzeugt (wie ich vor meinem ersten Chile-Einsatz vor zwanzig Jahren noch glaubte), sondern weitaus häufiger Neid, Hass und Gewalt. Deswegen muss man sie ja auch so dringend bekämpfen.


Sonntag, 12. April 2009

Chilenisch für Anfänger (3): Spielen

Auch wenn Chilenen ganze Gespräche mit der Vokabel huevón und deren Ableitungen bestreiten können: Ihr Erfindungsreichtum ist enorm. Das chilenische Spanisch strotzt vor modismos – Redewendungen oder Begriffen, die schon im lateinamerikanischen Ausland kaum jemand versteht. Der umgangssprachliche Jargon erneuert sich ständig, meist werden Ausdrücke in Santiago geprägt und verbreiten sich dann schnell über die gesamte Länge des Landes. Einen Chilenen, der das Land nach dem Putsch 1973 in Richtung Europa oder Nordamerika verlassen hat, um zwei oder drei Jahrzehnte später zurückzukehren, erkennen die Daheimgebliebenen spätestens nach zwei Sätzen am Vokabular.

So muss man als Chile-Fan nach ein paar Jahren der Abwesenheit zuallererst seinen Wortschatz updaten. Was um Himmels Willen ist beispielsweise ein flaite? Das Wort ist in aller Munde. Forscht man nach, erfährt man gleichzeitig auch etwas über gesellschaftliche Entwicklungen. Ein flaite, so viel steht inzwischen fest, ist - salopp forumliert - ein Prolet auf Drogen. Es gibt auch den roto, den klassischen Typus der chilenischen Unterschicht, arm, aber nicht auf den Mund gefallen und grundsympathisch. Der
flaite hingegen ist eine parasitäre Existenz, ein meist junger Mensch ohne Perspektive, der sich das Hirn längst mit dem Kokain-Abfallprodukt pasta base zu Matsch geraucht hat , raubt und billigen regueton hört. Aber woher kommt das Wort? Es handelt sich um eine Pseudoübertragung des Aus­drucks volao ins Englische. Ein volao ist einer, der unter Drogeneinfluss quasi abhebt (von volar, fliegen). Aber wieso englisch? Chilenen verstehen die Nachfrage nicht ganz: Warum denn nicht? Man sagt ja auch tincar (von think, hier: beabsichtigen), cachar (von catch, hier: begreifen) oder chutear (von shoot, hier: den Ball schießen).

Im Internet kursieren unendlich lange modismo-Listen, die natürlich auch unendlich viel Unanständiges beinhalten. Eine ganz spezifische Variante eher harmloser Redewendungen, die ständig neu erfunden werden, sind die más...que- Konstruktionen. Es handelt sich um Vergleiche, die ihren absurden Witz oft daraus schöpfen, dass sie sich auf das Bezugswort, nicht aber auf dessen Sinn im Kontext beziehen. Disculpa el atraso, kann etwa jemand sein Zuspätkommen entschuldigen, es que me perdí y me di más vueltas que pollo asado. Soll heißen, der Betreffende hat sich verfahren und musste sich deshalb öfter drehen (hier wäre die kontextuelle Bedeutung: mehr Runden drehen) als ein Grillhähnchen.

Oft speisen sich diese Vergleiche auch aus genauen (aber nicht weniger absurden) lebensweltlichen oder gar anatomischen Beobachtungen. Ese huevón es más flojo que la mandíbula de arriba will sagen: Der Typ ist noch fauler als der Oberkiefer. Wieso ist der Oberkiefer faul? Ach stimmt ja, die Arbeit macht nur der untere Teil des Gebisses. Ist jemand más asustado que pez en semana santa, heißt das: Er hat mehr Angst als ein Fisch zu Ostern. Weil zum Osterfest hierzulande immer Fisch oder Meeresfrüchte auf den Tisch kommen. Neueren Datums ist so etwas: Esa tipa es más callada que cajera de peaje. Die so bezeichnete Frau ist extrem wortkarg - schlimmer als eine Kassierin von der Autobahn-Maut. Autofahrer verstehen das sofort.

Mit einer ähnlich gelagerten Redewendung brachte mich letztens mein Freund Chany ins Grübeln. Er pfeife finanziell auf dem letzten Loch, gestand er mir: No me alcanza ni pa' hacer cantar a un ciego. Sein Budget reiche noch nicht mal aus, um einen Blinden zum Singen zu bewegen. Einen Blinden? Zum Singen? Meint er die blinden Sänger, die in jeder chilenischen Stadt Boleros und andere Schnulzen am Straßenrand trällern? Die singen doch stundenlang am Stück? Ach so – wenn's noch nicht mal dafür reicht, muss es schon sehr, sehr wenig sein.

Dienstag, 7. April 2009

Chilenisch für Anfänger (2): Fluchen



Was genau diese beiden Herren besprechen, eignet sich hier nicht als Thema. Der Dialog soll auch nur illustrieren, dass das chilenische Spanisch zu beachtlichen Anteilen aus garabatos besteht, Unflätigkeiten und Schweinereien, die sich, wie wohl überall auf der Welt, aus zwei Wortfeldern rekrutieren: Reproduktion und Ausscheidung.

Das mit Abstand unverzichtbarste chilenische Wort, das man aus jedem beliebigen Dialog auf der Straße erhorchen kann, lautet huevón. Praktisch unübersetzbar, beschreibt es im Grundsatz eine männliche Person mit überdurchschnittlich ausgebildeten Gonaden, sprich: Hoden. Was man andernorts möglicherweise als Kompliment verstehen würde, ist in Chile - wiederum im Grundsatz - beleidigend gemeint. Wahrscheinlich, weil eine derartige Attribuierung umgekehrt auf mäßig entwickelte Intelligenz verweist.

Merkwürdigerweise führt der huevón aber ein Doppelleben, denn obwohl er sich auch weiterhin als kolossale Beschimpfung eignet (dem deutschen "Arschloch" vergleichbar), fungiert er in der Kommunikation unter Freunden als inflationär gebrauchte Ansprache, die, je nach Intonation und Situation, sogar liebevoll klingen kann. Zusammen mit Ableitungen wie dem sächlichen huevá (was im Prinzip alles sein kann, nur eben keine Person) und dem Verb huevear (dessen Bedeutung je nach Kontext zwischen "auf die Nerven gehen" und "Spaß haben" oszilliert) kann man mit dieser Wortfamilie schon ein halbes Gespräch bestreiten: ¡Como huevea con la huevá ese huevón! Erstaunlicherweise verwenden auch Frauen das Kosewort - untereinander.

Für Anderssprachige kaum nachvollziehbar ist die Allgegenwart von Begriffen wie puta (Nutte), chucha (Möse), pico (Schwanz), cagar (scheißen) oder culear (ficken). Oft sind diese Wörter so in die Alltagssprache eingeschliffen - etwa als reine Interjektionen -, dass die Sprecher und Sprecherinnen sie gar nicht mehr als anstößig empfinden ¡Chucha! ruft etwa auch der, dem gerade ein Band der Königlich Spanischen Sprachakademie auf den großen Zeh gefallen ist. Oft ist es einfach eine Frage des Tonfalls. Natürlich gibt es Kreise, in denen die Verwendung solcher Vokabeln geächtet ist - wenn Außenstehende mithören. Hinter den Kulissen finden groserías und allerlei Doppeldeutigkeiten klassen-, generationen- und sogar geschlechterübergreifend Verwendung.

Dass dreckige Witze ein chilenischer Volkssport sind, musste vor ein paar Jahren die brasilianische Sängerin Xuxa (was ausgesprochen so ähnlich klingt wie chucha) bei einem Auftritt in Viña del Mar erleben. Als sie mit dem Festivalpublikum den Refrain ihres alten Gassenhauers "Ilariê" probte, scholl ihr etwas entgegen, was sie nicht verstand. Statt "O-O-O" brüllten alle ... aber das zu übersetzen ginge jetzt wirklich zu weit.


Sonntag, 5. April 2009

Chilenisch für Anfänger (1): Singen

Ob ein Zweig der vergleichenden Sprachwissenschaften existiert, welcher Tonhöhenforschung betreibt, ist mir nicht bekannt. Sollte es aber Linguisten mit entsprechendem Interesse geben, könnten sie in Chile ergiebige Feldforschung betreiben.

Nicht nur in Lexik und Grammatik weichen nämlich die regionalen Spielarten des Spanischen voneinander ab, auch die Frequenz, auf der man sendet (und das im Wortsinn), kann ganz unterschiedlich sein. Muss ein Deutscher normalerweise die Stimme senken, wenn er spanisches Spanisch möglichst originalgetreu sprechen will, sollte er sie beim chilenischen Spanisch deutlich heben - manchmal um eine ganze Oktave. Als ich vor langer Zeit zum ersten Mal junge Chileninnen sprechen hörte - es handelte sich um eine Tonbandaufnahme -, hielt ich deren Stimmlage für das Ergebnis eines Aufnahmefehlers.

Ansatzweise illustrieren lässt sich das Phänomen durch einen weiteren Youtube-Schnipsel des außerordentlich populären Stimmenimitators Stefan Kramer (bei dem es sich, vielleicht muss man doch darauf hinweisen, tatsächlich um einen ganz normalen Chilenen handelt). Hier ahmt er Francisco Vidal nach, bis vor kurzem Regierungssprecher und inzwischen Verteidigungsminister:



Das ist übertrieben, aber nur ein bisschen.

Der Chilene zwitschert also gern, und auch wenn kein Lied daraus wird, hat Sprechen hierzulande mehr mit Singen zu tun als anderswo. Vokale werden im chilenischen Spanisch bisweilen extrem gedehnt, unter anderem in Form von kommentierenden Interjektionen: von einem gedämpften uuuuuh als Zeichen der Betroffenheit über ein breites aaaaah, wenn man etwas als Übertreibung erkannt hat, bis zum kichernden oooooh als Ausdruck fröhlicher Schadenfreude (das alles ist wichtig, weil die Chilenen sehr gerne Geschichten erzählen, und möglichst solche mit Pointe).

Dank seiner Musikalität eignet sich das Chilenische auch besonders gut dazu, freundlich zu sein. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, wenn man von Berlin noch das preußisch-gequetschte Idiom der Alteingesessenen und den tiefergelegten Ton der Migrantenkids im Ohr hatte. Hier dagegen kann man selbst einzelne Wörter mit verblüffender Sanftheit aufladen. Ein hoch oben begonnenes und hinten unten beinahe kleinkindlich gestrecktes permiiiso macht im Supermarkt oder auf der Straße den Weg frei, ohne auch nur einen Hauch schlechter Laune zu verbreiten.

Möglich, dass es Dialekte des Deutschen gibt, mit denen man diesen Effekt ansatzweise simulieren kann. Grundsätzlich aber habe ich für mich einen ebenfalls musikalischen Vergleich gefunden, der erklärt, warum das wohlig Weiche des Chilenischen auf unsere Sprache prinzipiell nicht übertragbar ist: Wenn die Chilenen Holzbläser sind, sind die Deutschen Blechbläser. Und auf einer Trompete kann man kein Klarinettenkonzert spielen.

Donnerstag, 2. April 2009

Piñeras bittere Pillen

Spätestens seit die ultrarechte UDI ihn auch zu ihrem Präsidentschaftskandidaten gekürt hat, gilt Sebastián Piñera wieder als sichere Karte für die Wahl im Dezember. Jedenfalls bei seinen Anhängern und den Demoskopen. Dass die Mehrheit der Chilenen sich nicht im letzten Augenblick doch noch gegen den Geschäftsmann entscheiden könnte, ist nicht ausgeschlossen.

Denn genau diese Eigenschaft - Piñeras Geschäftstüchtigkeit, die ihm ein Vermögen von einer guten Milliarde US-Dollar und Platz 799 auf der Forbes-Liste der reichsten Menschen eingebracht hat - kommt nur in guten Zeiten gut an. Aber jetzt stehen die Zeichen auf Krise, und zu allem Überfluss ist die Sache mit den Apotheken passiert.

Das pharmazeutische Geschäft in Chile ist stark konzentriert, bei den Apotheken herrscht ein Oligopol aus drei Wettbewerbern. Wie gut dieser Wettbewerb tatsächlich funktioniert, steht spätestens zur Debatte, seit der größte der drei, die Kette Farmacias Ahumada (Fasa), erklärt hat, mit den Konkurrenten Preisabsprachen bei rund 200 Medikamenten getroffen zu haben. Das soll aufs Konto einzelner Manager in untergeordneter Position gehen und lediglich den Zeitraum von November 2007 bis März 2008 betreffen -aber der Skandal ist in der Welt, und vielleicht kommt ja auch noch etwas nach. Noch leugnen die anderen beiden Firmen, Cruz Verde und Salcobrand, die Anschuldigungen gegenüber der ermittelnden Fiscalía Nacional Económica, der Staatsanwaltschaft, die das Kartell aufgedeckt hat.

Das macht jetzt auch Sebastián Piñera schlechte Laune - vor allem, weil er, wie jetzt bekannt wurde, ein paar Millionen Dollar in Fasa-Aktien investiert hat. Das ist wenig im Vergleich zu seinen großen Beteiligungen bei der Fluggesellschaft Lan Chile und dem Fernsehsender Chilevisión, in deren Direktorien er sitzt, und im Vergleich zu diesen Unternehmen muss er über das Geschäftsgebahren der Groß-Apotheker auch nicht en detail Bescheid wissen. Aber die öffentliche Wirkung solcher Erkenntnisse ist verheerend, zumal der Möchtegern-Präsident verlautete, er sei empört und werde "bei nächster Gelegenheit" seine Fasa-Papiere verkaufen. Bei nächster Gelegenheit soll wohl heißen: wenn der Kurs wieder besser steht. Auf eine Gewinnmitnahme verzichtet ein Piñera nicht.

Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie der Mann mit den ewig hochgekrempelten Hemdsärmeln tickt, hier ein Interviewausschnitt:




O-Ton Piñera: "Chile ist ein großartiges Land mit einer wunderbaren Zukunft ...blabla ... aber in der Politik muss wieder gute Arbeit geleistet werden ... blabla ... zu viele inkompetente Politiker ... blabla ... meine wahre Berufung ist der öffentliche Dienst ... blabla ... ich selbst werde alle wirtschaftlichen Aktivitäten einstellen, wenn ich Präsident bin ... blabla ... wirtschaftlicher Erfolg ist doch keine Sünde ... blabla ... ich bin sehr stolz darauf, immer hart gearbeitet zu haben und früh aufgestanden zu sein ... blabla ... die Chilenen wissen so etwas auch zu würdigen."

Wenn man Sebastián Piñera heute bei Youtube sucht, stößt man freilich an erster Stelle auf ein anderes Video: die Parodie des Imitators Stefan Kramer beim Festival von Viña im Jahr 2008, schon ein richtiger Klassiker. Kramer hat Piñera einen Satz in den Mund gelegt, den heute jeder kennt: Soy de bracitos cortos pero agarro harto. Piñera hat tatsächlich kurze Ärmchen - und dass er mit ihnen dennoch eine Menge Geld zusammengerafft hat, kann auch niemand bestreiten.

Mittwoch, 1. April 2009

Regen, Regen, Regen


Und plötzlich ist wieder Herbst.
(Press HQ for better quality.)