Sonntag, 19. Oktober 2008

Ethikunterricht

Endlich wieder in Santiago. Auf dem obligatorischen Stadtrundgang verweilen wir ein paar Minuten in der Kathedrale - was mich betrifft, nicht unbedingt aus Frömmigkeit, eher weil das barocke Dunkel der Kirche so schön europäisch ist. Wir sitzen vorn in den ersten Bänken, als plötzlich ein junger Mann zarte Akkorde auf der Gitarre greift. Ein anderer junger Mann mit römischem Kragen nimmt Position auf den Altarstufen ein, und vor ihn treten ein dritter junger Mann – und ein vierter junger Mann. „Luis Alberto, möchtest du den Bund fürs Leben eingehen mit José Miguel?“ „Ja.“ „José Miguel, willst du den Bund fürs Leben eingehen mit Luis Alberto?“ „Ja.“ „So erkläre ich euch hiermit vor Gott zu Eheleuten.“ Unter dem Applaus vieler Anwesender begeben sich die drei zum Ausgang, und wir sind erst konsterniert, dann belustigt und schließlich besorgt, wie wohl die restlichen Kirchenbesucher reagieren – also die, die nicht Teil der Performance waren. Setzt es jetzt Prügel? Es geschieht: nichts. Was daran liegen mag, dass die vermeintliche Trauung nur eine knappe Minute gedauert hat und im hinteren Teil des Kirchenschiffs akustisch kaum wahrnehmbar gewesen sein dürfte. Eine Provokation – aber eine sehr, sehr vorsichtige.

Am nächsten Tag grillen wir bei Valentina. Die halbe Groß- und Patchworkfamilie ist da, es fehlen Martín, der mit seiner Familie nach Talca aufs Land gezogen ist, und Javiera, deren Mann zu einem Seminar in Paris eingeladen wurde, um über den Arbeitskampf in Chile zu sprechen. Natürlich nutzen beide die Chance, mit ihrem kleinen Sohn ein paar Wochen in Frankreich zu verbringen. Beim Essen erzählen wir von der Katze, die uns vor ein paar Wochen zugelaufen ist und inzwischen fünf Junge geworfen hat. Sie wohnen bei uns in einer mit Decken gepolsterten Schublade, trinken und wachsen. Niedlich! Valentinas Mutter, eine stille, immer freundliche Frau, hat wenig Sinn für so viel Tierliebe. „Bei mir im Haus hat eine Katze letztens auch geboren. Die ist irgendwie über die Mauer gekommen und hat sich in mein Schlafzimmer geschlichen.“ Zeit für herrenlose Tiere hat sie nicht – und wenig Mitgefühl. Oder doch? „Ich habe die Kleinen sofort in Plastiktüten gewickelt und in den Müll getan. So macht man das halt. Die schreien nicht einmal mehr.“ Mir bleibt der sprichwörtliche Bissen im Halse stecken: Rindfleisch, innen schön rosa.

Am Abend besuche ich Andrea, eine Freundin aus Berlin, die neben ihrer akademischen Karriere immer wieder in Armenvierteln von Santiago arbeitet – meist in den Projekten von Cristo Vive. Das ist die Stiftung von Karoline Meyer, der deutschen "Mutter Teresa von Santiago“, wie Medienleute sie genannt haben – ein blöder Vergleich, denn weder ist Santiago Kalkutta, noch ist die Hermana eine ausgemachte Freundin des Papstes, auch wenn sie so etwas wie das Leben einer arbeitenden Ordensschwester führt. Das Viertel, in dem Andrea wohnt, hat einen ziemlich schlechten Ruf. „Heute Nachmittag hat eine Gruppe Jugendlicher vor meinen Augen auf eine andere geschossen“, erzählt sie, „aber das hört sich immer schlimmer an, als es tatsächlich ist. Jedenfalls wurde niemand verletzt.“ Andrea ist nur noch ein paar Tage hier, dann fliegt sie nach Bolivien, um für den dortigen Ableger der Stiftung zu arbeiten. Für den Rückweg will ich ein Taxi nehmen, Andrea begleitet mich zur nächsten größeren Straße. Die ersten beiden Wagen rauschen vorbei – leer. Der Fahrer des Taxis, das dann doch noch hält, erklärt warum: „Da stehen um diese Uhrzeit immer Drogensüchtige, die einen ausrauben wollen. Ihr wart dafür aber ein bisschen zu blond.“ Auf der rasanten Fahrt in die Oberstadt will es der gute Mann genau wissen: „Was macht denn eine junge deutsche Frau in so einer miesen Gegend?“ Sie arbeitet da, erkläre ich ihm, und dass sie jetzt nach Bolivien geht „Noch schlimmer“, ruft er, „und anschließend nach Haiti, oder was? Das soll mal einer verstehen.“ Idiot, denke ich, aber ich sage nichts, ich will doch nach Hause.

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