Nach einem knappen Dreivierteljahr in Chile darf man behaupten, sich ein paar jener filigranen Kulturtechniken angeeignet zu haben, die man auf den ersten Blick nicht wahrnimmt und denen vielleicht auch keine tiefere Bedeutung zukommt, an deren Beherrschung oder Nicht-Beherrschung aber Einheimische den Ausländer zuverlässig erkennen. Man hat gelernt, die Tür des colectivo nach dem Aussteigen sanft zu schließen. Man sagt nicht mehr permítame una pregunta, sondern le hago una consulta, wenn man etwas in Erfahrung bringen will. Man versteht den Ruf des Tankwarts vor dem Einführen des Zapfhahns (sein está en zero weist darauf hin, dass der Zähler tatsächlich auf Null steht), quittiert dies mit ¡ya!, gibt aber längst kein Trinkgeld mehr (weil unüblich). Die an der Supermarktkasse gestellte Frage nach der Bereitschaft, ein paar Pesos Wechselgeld für wohltätige Einrichtungen zu spenden, beantwortet man dagegen mit Ulrich-Wickert-Augenaufschlag und einem sí, bei dem man den Mund zur Schnute formt und das "s" leicht lispelt - diese Kombination enthält das exakte Mischungsverhältnis aus Großzügigkeit (weil man spendet) und Demut (weil es sich um einen winzigen Betrag handelt). Überhaupt ist man freundlicher und toleranter geworden, zumal wenn man vorher lange Jahre in Berlin gelebt hat.
Auch die korrekte Verwendung der Anredepronomina will gelernt sein. Grundsätzlich gilt: Geduzt wird deutlich mehr als in Deutschland, aber nur innerhalb der Peer-Group. Mit mir unbekannten Eltern von B.s Mitschülern kann ich mich problemlos duzen - Siezen würde als bewusste Distanz, wenn nicht als unfreundliche Geste gewertet. Auch mit mutmaßlich Gleichaltrigen auf der Straße macht man keinen Umweg übers "Sie". Deutlich Älteren gegenüber verbietet sich dagegen dieser Umgang, während in einer Klassengesellschaft wie der chilenischen das herrschaftliche "du" weit verbreitet ist: Die Hausangestellte oder der Kellner werden wie selbstverständlich geduzt, was sich den beiden umgekehrt keineswegs geziemt.
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über Zahnspangen schreiben. Die thematische Verknüpfung geht wie folgt: Mein Kieferorthopäde duzt mich. Er ist vermutlich kaum älter als ich, und unter anderen Umständen würde auch ich ihn duzen. Aber einen Arzt? Vollends verwirrend wird es, wenn er, die Hände tief in meinem Mund, plötzlich zum Sie zurückkehrt: Drehen Sie mal ein bisschen den Kopf, beißen Sie jetzt zu. Rein theoretisch könnte es sich um eine Art Zärtlichkeits-Siezen handeln, wie es hiesige Eltern kleinen Kindern angedeihen lassen, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er beim Hantieren an meinem Gebiss sehr rücksichtsvoll vorgeht, im Gegensatz zu praktisch allen Berliner Zahnärzten, die mir mindestens einmal pro Sitzung die Lippe gegen die Schneidezähne quetschen, bis mir der Schmerz Tränen in die Augen treibt.
Ich halte die Behutsamkeit von Dr. Sandoval für einen Ausweis seiner Professionalität. Nicht ganz professionell geflickt war hingegen ein in Berlin auf den letzten Drücker wurzelbehandelter Backenzahn - er brach nach zwei Monaten auseinander. Im Zusammenhang mit seiner Versorgung und angesichts diverser Schiefstände schlug mir der behandelnde Dentist vor, mich einer kieferorthopädischen Behandlung zu unterziehen. Seine Argumente überzeugten mich, zumal der durchschnittliche Preis im Vergleich zu Deutschland Schnäppchencharakter aufweist. Nicht so überzeugt war und ist S., aber sie hat die Spange ja auch Tag für Tag vor Augen.
Seit ein paar Wochen weiß also auch ich, wie sich eine "festsitzende Multibracketapparatur" anfühlt, vor allem, wenn sich die Mundschleimhaut noch nicht an die Dauerreizung gewöhnt hat. Auch die Zähne schmerzen, ja, aber es wird schon besser. Spott muss man sich in Chile dagegen selten bis nie anhören - hier ist die Korrektur der Zahnstellung im Erwachsenenalter nichts Besonderes. Das heißt: Besonders ist sie natürlich insofern, als sie sich keineswegs jeder leisten kann. Wahrscheinlich identifiziert man Enddreißiger mit Zahnspange hier insgeheim als Aufsteigertypen, als Menschen, die ihren hart erarbeiteten Wohlstand beweisen wollen: Arme tragen schließlich statt Spange Lücke, wohingegen die oberen Zehntausend sich ihre Zähne schon als Teenager perfekt haben ausrichten lassen.
Solche Gedanken beschleichen mich jetzt jedesmal, wenn ich den Mund zum Lächeln öffne. Aber da gibt es nur eins: Zähne zusammenbeißen und durch.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen