Sich in den Alltag eines anderen Landes zu katapultieren, bringt tausend kleine Unwägbarkeiten mit sich – selbst wenn man einigermaßen mit dem Terrain vertraut ist. Manchmal ist es aber auch der eigene soziale Status, der sich verändert hat und das Erlernen neuer Kulturtechniken erfordert. Etwa beim Trinkgeld.
Bei unseren früheren Aufenthalten in Chile gehörten wir im weitesten Sinne der Backpacker-Klasse an, die sich um eine korrekte propina wenig Gedanken machen muss. Erstens weil man selbst nicht allzu viel hat, zweitens, weil man die möglicherweise düpierten Empfänger so schnell nicht wiedersieht. Jetzt sind wir – ebenfalls im weitesten Sinne – Teil der chilenischen Mittelschicht, mit Haus und Auto und einem für hiesige Verhältnisse überdurchschnittlichen Auskommen. Außerdem werden wir für geraume Zeit am Ort bleiben. Das erfordert überlegtes Handeln.
Was gibt man denn den freundlichen jungen Menschen, die einem im Jumbo-Supermarkt demütig die Einkäufe in Plastiktüten stecken? Universitario steht auf ihren Polo-Shirts, und Studieren ist in Chile ein teurer Spaß. Also lassen wir uns nicht lumpen. Aber was heißt das konkret? Sind 100 Pesos (14 Cent) wirklich genug? Wären 500 gnadenlos übertrieben, ließe sich das vielleicht als Geste der Herablassung missdeuten? Man müsste überschlagen, wie viele Kunden pro Schicht durch eine dieser Kassen kommen. Ach, lieber nicht.
Wir pendeln uns bei 150 Pesos ein. Susanne, die seit anderthalb Jahren hier lebt, gibt das Doppelte, um sich so, wie sie selbstironisch sagt, ein reines Gewissen zu kaufen: „Ich finde es immer noch ziemlich irritierend, in einem Entwicklungsland zu den Besserverdienenden zu gehören.“ Da hat sie Recht. Die Studenten im Jumbo stecken das Geld übrigens ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Das wurde ihnen wahrscheinlich als unschöne Geste untersagt.
So geht es weiter. Im Restaurant ist es noch am einfachsten, da gilt die Zehn-Prozent-Faustregel, die in jedem Reiseführer steht. Aber erwartet der Tankwart, dass man ihm zusätzlich zu dem glatten Betrag, für den man hier üblicherweise das Auto auffüllen lässt, noch ein paar Münzen durchs Fenster reicht? Wenn es sich nicht um eine Routineleistung handelt, kann man wenigstens ganz naiv fragen – wie den netten Mann neben der staubigen Zapfsäule am Rande des Vicente-Pérez-Rosales-Nationalparks, der uns Luft auf die Reifen pumpt und den Druck in Ermangelung eines Messgeräts per Fußtritt ermittelt. Cuánto le debo, was bin ich Ihnen schuldig? So einfach geht das. Lo que Usted estime conveniente, lautet die sibyllinische Antwort: Was Sie für angemessen erachten. Wir sind so schlau wie zuvor.
Dem Bettler auf der Straße, der nach einer gambita fragt, kann sofort geholfen werden, schließlich gibt er den gewünschten Betrag (gamba = Slang für 100 Pesos) selbst an. Der kleinen Frau, die vor ein paar Tagen mit einem Müllsack vor unserer Haustür stand und höflich nach „irgendeiner Hilfe, Essen oder Kleidung“ fragte, schenkte ich dagegen nach kurzem Überlegen mehrere Packungen Grillwürste, die bei einer Party übriggeblieben waren. Sie waren noch frisch und von guter Qualität, aber in Wirklichkeit wollte sie niemand von uns essen. Wie nennt man so etwas? Nächstenliebe mit Köpfchen? Abgebrühtheit? Ich habe keine Ahnung.
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