Freitag, 23. Mai 2008

Erschütterungen

Gestern Abend hat die Erde gebebt, zum ersten Mal, seit wir hier sind. Es war kein schweres Beben: Nach Angaben des Seismologischen Dienstes der Universidad de Chile erreichte es 4,6 Grad auf der Richterskala, auf der Mercalliskala, die den Grad der Wahrnehmbarkeit bzw. der Zerstörungen beschreiben soll, war es Stufe III für Puerto Montt. Das Epizentrum lag etwa 75 südlich von hier, also auf halber Strecke zum Vulkan Chaitén. Mit dessen Ausbruch habe die Erderschütterung aber nichts zu tun, beeilten sich die regionalen Behörden mitzuteilen.

Im Nachhinein erscheint ein Beben dieser Größenordnung nahezu lächerlich. Das Wohnzimmer geriet in Schwingung, die Lampe über dem Esstisch begann zu schaukeln - obwohl bei näherer Betrachtung wir es waren, die zu schaukeln begannen, während die Lampe den Gesetzen der Trägheit gehorchend weiter in Richtung Erdmittelpunkt zeigte. Eigentlich kein unangenehmes Gefühl - wäre da nicht die Furcht, es könne sich doch noch zu etwas Großen auswachsen.

Ganz von der Hand zu weisen ist das ja nicht: Der Süden Chiles war vor - fast auf den Tag genau - 48 Jahren Schauplatz des bislang stärksten Erdbebens der Welt, seit Beginn der entsprechenden Aufzeichnungen, versteht sich. Dass beim "Erdbeben von Valdivia" oder "Großen Chile-Erdbeben" weitaus weniger Menschen ums Leben kamen als unlängst in China, liegt nur daran, dass Chile weitaus dünner besiedelt ist. Das Beben hatte im Epizentrum eine Stärke von 9,5, ihm folgten viele starke Nachbeben und ein verheerender Tsunami. Manche Orte an der Pazifikküste wurden in Gänze zerstört und weggespült, in Puerto Montt fielen dem Beben 80 Prozent der Gebäude sowie die gesamten Hafenanlagen zum Opfer. Die wohl einzigen, die der Katastrophe etwas Positives abgewinnen konnten, waren die Geologen: Bei dem tektonischen Großereignis hatte sich nicht nur die Nazca-Platte 40 Meter unter die Südamerikanische Platte geschoben (normal sind ein paar Zentimeter im Jahr), die seismischen Wellen wanderten auch durchs Erdinnere und zurück, was den Wissenschaftlern neue Erkenntnisse über dessen Beschaffenheit ermöglichte.


Puerto Montt, im Mai 1960

Das stärkste Erdbeben der Welt also, vor knapp 50 Jahren. Heißt das nun, dass die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Mega-Bebens denkbar gering ist, oder neigt diese Zone gerade zu katastrophischem Verhalten? Grundsätzlich, so lässt sich aus den Grafiken der Seismologen ablesen, sind Puerto Montt und Umgebung ein eher erschütterungsarmes Gebiet innerhalb Chiles. Gibt das Sicherheit? Eher nicht. Für gewöhnlich verdrängen wir die Vorstellung, innerhalb von ein paar Minuten, irgendwann und ohne Vorwarnung, könnte die ganze Stadt auf links gedreht sein. Den Chilenen geht es nicht viel anders: In einer Online-Umfrage des Llanquihue bekannten über 70 Prozent der Teilnehmenden (n unbekannt), nicht zu wissen, wie sie bei einem Vulkanausbruch, einem Erdbeben oder einem Tsunami reagieren sollten. Auch nicht gerade beruhigend.

Mir kommt die latente Gefahr immer mal wieder in den Sinn. Zuletzt, als ich bei Sodimac, dem hiesigen Äquivalent zu Bauhaus-Hornbach-Obi Schrauben kaufen war. Vor meinem inneren Auge stürzte der tonnenschwere Inhalt der Hochregale in Sekundenschnelle zu Boden und begrub die panischen Kunden unter sich. Gut, sagte ich mir, dann muss man eben, wenn es losgeht, in ein Regal kriechen, um einigermaßen sicher zu sein. Hoffentlich stimmt das auch.

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