Freitag, 9. Mai 2008

Angebrannt

Chile ist ein katholisches Land. Theoretisch. Zwar gelobten bei der letzten Volkszählung im Jahr 2002 knapp 70 Prozent der Befragten dem Papst die Treue, und im Machtgefüge der chilenischen Gesellschaft besetzt die katholische Kirche weiterhin eine strategische Position. Im realen Leben spielt das aber keine sonderlich bedeutende Rolle. Als ein frommes Volk kann man die Chilenen beim besten Willen nicht bezeichnen, auch wenn sich bisweilen die Frau auf dem Nebenplatz in der micro hastig bekreuzigt, weil der Bus gerade an einer Kirche vorbeirumpelt.


So war es auch kein bekennender Agnostiker (laut Zensus immerhin gut acht Prozent der Bevölkerung), der am Vormittag des 18. April die Statue der Virgen del Carmen, eine Marienfigur in der Kathedrale von Santiago, mit einer Kerze anzündete.* Vielmehr handelte es sich um einen verwirrten jungen Mann, der später in einer anderen Kirche festgenommen wurde, und in dessen Taschen neben einem Feuerzeug religiöse Bildchen gefunden wurden. Den Attentäter steckte man in eine psychiatrische Klinik, für die Wiederherstellung der verkohlten Kleider der Jungfrau Maria, die vom Kirchenpersonal mit einem Gartenschlauch gelöscht worden waren, wird Geld gesammelt. Die chilenischen Bischöfe, die an jenem Tag gerade ein gemeinsames Arbeitstreffen beendeten, feierten am Sonntag darauf eine misa de desagravio, eine Wiedergutmachungsmesse, vielleicht um die „Nationalheilige“ zu besänftigen.


Das war ein gefundenes Fressen für das Satire- und Reportageblatt The Clinic. Es titelte Milagro: Virgen del Carmen se quemó sin calentarse, was so viel wie „Wunder: Die Jungfrau verbrannte, ohne heiß zu werden“ bedeutet. Wobei letzteres Verb im Spanischen zweifelsfrei sexuell zu verstehen ist.


Das konnte die Kirche nicht auf sich sitzen lassen: In einem Leserbrief, nicht an The Clinic, sondern an den rechtskonservativen Mercurio, beklagte sich ein Würdenträger der Erzbistums Santiago bitter über solchen Spott. „Die Titelseite hat die Liebe und den Respekt verletzt, den wir der Jungfrau Maria schuldig sind. Guter Humor: ja; Grobheiten: nein: Blasphemie: niemals!“ Das Leserforum des Mercurio quoll daraufhin regelrecht über – von Beiträgen beleidigter Katholiken ebenso wie Aufrufen zur Mäßigung und zur Verteidigung der Meinungsfreiheit.


Unser Land befindet sich in einem Prozess des moralischen Verfalls“, befindet etwa Hector Precht Bañados, „von der Wiege bis zur Bahre werden den Chilenen ihre Werte madig gemacht. In unserer Gesellschaft werden Gewalt und banale Sexualität verherrlicht, die Korruption triumphiert, der Schein gilt mehr als das Sein, man pflegt einen obsessiven Konsum, die Familie wird nach und nach zerstört, die Verehrung des Vaterlands und seiner Helden wird ins Lächerliche gezogen.“ Hingegen schreibt Xavier Parra Morales an die Adresse der Empörten: „Niemand wird gezwungen, die Titelseiten am Kiosk zu lesen. Schauen Sie einfach woanders hin. Die Kirche für ihren Teil zwingt uns in vielerlei Hinsicht durchaus, uns ihre zweifelhafte Moral zu Eigen zu machen. Ihr Christen wollt immer alles kontrollieren. Eine Karikatur schadet niemandem. Was euch Sorgen macht, ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen aufwachen und merken, dass es weder Sinn macht noch der Gesellschaft gut tut, an Märchen zu glauben.“


Die Redaktion von The Clinic (die so übrigens zu Ehren der London Clinic heißt, in der einst Augusto Pinochet unter Arrest gestellt wurde) hat nichts anbrennen lassen und all diese Briefe in voller Länge abgedruckt. Die Lektüre ist im besten Sinne erhellend.


* Für Neugierige: Die ganze Story steht hier.


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