Montag, 9. Juni 2008

Schlechte Noten

Proteste und kein Ende: Kaum hat die Regierung dem massiven Druck der Transportunternehmer nachgegeben und ihnen einen befristeten Steuernachlass auf Dieselkraftstoff in Aussicht gestellt, fordern auch die Betreiber von Bussen und Taxis entsprechende Vergünstigungen, und die Angestellten des riesigen Transantiago-Verkehrsverbunds in der Hauptstadt drohen mit Streiks, weil sie seit langem vergeblich auf bessere Arbeitsbedingungen warten.


Richtig zur Sache geht es bei den Demonstrationen von Schülern und Lehrern gegen die baldige Verabschiedung des neuen Schulgesetzes (Ley General de Educación). Das LGE wurde von der regierenden Concertación erarbeitet, nachdem zehntausende Oberstufenschüler zum Winteranfang 2006, also vor genau zwei Jahren, wochenlang auf die Straße gegangen waren und damit eine politische Krise heraufbeschworen hatten – was wegen der allgegenwärtigen Schuluniformen als „Revolution der Pinguine“ in die Annalen einging. Der Protest richtete sich gegen das noch von Pinochet erlassene geltende Gesetz, durch das große Teile des Bildungswesens privatisiert und dezentralisiert wurden. „Dezentral“ klingt gut, aber die riesigen sozialen Unterschiede zwischen den einzelnen Städten und Gemeinden, die seitdem die staatlichen Schulen betreiben, haben die Gleichung "arm = ungebildet" nur verschärft. Nach Ansicht der heutigen Demonstranten schreibt der Entwurf des neuen Gesetzes die Ungerechtigkeiten des alten in großen Teilen fort. Erst gestern wurden 200 Schüler festgenommen, die sich in ihre Schulen verbarrikadiert hatten. Wer die chilenische Polizei ein wenig kennt, weiß, dass solche Räumungen mit ausgesuchter Brutalität vonstatten gehen.


Auch sonst liegt in Chiles Schulen einiges im Argen. Die jährliche Bildungsstudie SIMCE offenbart mit trauriger Regelmäßigkeit die kognitiven Defizite der Schüler und insbesondere die enorme Kluft zwischen privaten bzw. halbprivaten und öffentlichen Schulen. Wer letztere besucht, muss schon außerordentlich talentiert und fleißig sein, um bei der zentralen Zulassungsprüfung zum Universitätsstudium ausreichend Punkte zu sammeln. Vom Ergebnis der PSU (Prueba de Selección Universitaria) hängt es ab, ob man an einer der renommierten staatlichen Unis studieren kann oder nur an einer miesen privaten Klitsche – hier ist das Verhältnis staatlich/privat mit wenigen Ausnahmen genau umgekehrt.


Zu allem Überfluss haben jetzt auch noch Knut, Holger und Susanne scharfe Kritik am chilenischen Schulwesen geübt. Knut, Holger und Susanne sind Lehrer an der Deutschen Schule Santiago (einer Elite-Einrichtung, wohlgemerkt), die von der Tercera neben anderen ausländischen Pädagogen – Kanadiern, Italienern, Franzosen, Briten – nach ihren Erfahrungen befragt wurden. Ihr Urteil fällt vernichtend aus: Alles stehe und falle mit der PSU, klagen sie, weshalb auch der Unterricht in den oberen Klassen nur noch zum Einpauken des geforderten Stoffs dient. Sie monieren das System der Bewertung von schulischer Leistung, bei dem Zehntelnoten über die Zukunft des Schülers entscheiden. Außerdem, sagen Susanne und Holger, fehle vielen der Jugendlichen die Reife und die Disziplin, sich aus eigenem Antrieb mit schulischen Inhalten auseinanderzusetzen. Nur in einem Punkt sind sich alle befragten Ausländer einig: Das Verhältnis zwischen Schülern, Lehrern und Eltern ist in Chile viel enger und vertrauensvoller als in ihren Herkunftsländern.

S. kann das meiste aus ihrer bisherigen Erfahrung bestätigen. Auch sie muss sich mit der Vergabe von Noten herumschlagen, bei denen ein Zehntel mehr oder weniger extreme Folgen zeitigen kann – im schlimmsten Fall das vorzeitige Ausscheiden aus der Schule, an der ja nur die Besten der Besten von Puerto Montt lernen sollen. Weil es bei der Uni-Zulassung zu einem kleinen Teil auch auf den Notendurchschnitt der Oberstufe ankommt, beanstanden außerdem viele Eltern die relativ strengen Beurteilungskriterien und entsprechend "schlechten" Noten im Fach Deutsch - das dann aber in der PSU selbst nicht getestet wird. Ob man Deutsch nicht in eine AG auslagern könne, wird manchmal gefragt – und das an einer Schule, die diese Sprache seit fast 140 Jahren mit Stolz im Namen trägt. Am meisten stört auch S., dass in der Oberstufe alles dem Diktat der PSU unterworfen wird: Ohne Rücksicht auf Verluste wird Prüfungsstoff gebimst, für irgendwelche Spielereien wie Theaterprojekte oder Literaturzirkel ist da kein Platz.


Das klingt jetzt vielleicht negativer, als es tatsächlich ist. Grundsätzlich macht S. der Unterricht viel Spaß. Das hat tatsächlich auch mit der engeren Lehrer-Schüler-Beziehung zu tun. Probleme mit der Disziplin gibt es auch hier, aber dabei geht es um Unaufmerksamkeit oder ähnliches. Den oder die profe dagegen durch Mobbing zu zermürben, wie es in Deutschland gang und gäbe ist, so etwas fällt hiesigen Schülern gar nicht ein, und das ist auch sehr gut so.


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