Donnerstag, 26. Juni 2008

Rotwein und Allende

Eine Frage, die ich mir schon öfter gestellt habe: Wofür steht eigentlich dieses Land? Welche Assoziationen weckt das Wort "Chile" im Rest der Welt? Weckt es welche? Ich vermute, sie lauten auch heute noch "Allende" und "Pinochet". Sonst noch was? Sagen wir mal: Rotwein.

Gestern, am 26. Juni, hatte unter anderem Salvador Allende Geburtstag - vor genau 100 Jahren. Zu Ehren des gestürzten Präsidenten luden die ebenfalls sozialistische Amtsinhaberin und die Parteien der regierenden Mitte-Links-Koalition zu einem Festakt vor den Moneda-Palast. Am Fuße des Allende-Denkmals und vor 800 geladenen Gästen gab es ein paar nachdenkliche Reden, unter anderem von Allendes Tochter Isabel (nicht der Autorin). Die Kongressabgeordnete brachte ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass ihr Vater heute in der ganzen Welt Chile und den Kampf für soziale Gerechtigkeit symbolisiere. Gegenüber dem Volk, das Allende zuweilen wie einen Heiligen verehrt, wurden die Feierlichkeiten freilich recht hermetisch abgeriegelt. Auf die Frage, ob die Sicherheitsvorkehrungen, die eines Papstbesuches würdig waren, nicht der selbsterklärten Bürgernähe der Regierung widersprächen, antwortete deren Sprecher Francisco Vidal, manchmal müsse man solche Vorkehrungen treffen, um den Bürgern erst die freie Meinungsäußerung zu ermöglichen. Sein sozialistischer Ministerkollege José Antonio Viera-Gallo gab immerhin zu, dass Allende, würde er noch leben, "sicherlich nicht uneingeschränkt mit der Situation im Lande einverstanden wäre. Er würde aber die Entwicklung Chiles von einem Land, in dem extreme Armut und Diktatur herrschten, hin zu einem Zustand von mehr Wohlstand und Freiheit begrüßen." Angesichts der Tatsache, dass Chile weltweit zu den Staaten mit den schlechtesten Verteilungsindizes zählt, in denen also die Kluft zwischen Arm und Reich am größten ist, eine gewagte These. Aber Allende ist ja tot.

Ein, wie ich finde, überragender visueller Einfall ist die vor der Moneda installierte riesenhafte Replik von Allendes zerbrochener Brille (das Original ist im Museo Histórico Nacional ausgestellt). Die Hornbrille ist fester Bestandteil der Ikonografie Allendes und einer ganzen Epoche, die mit dem mutmaßlichen Selbstmord des Präsidenten endete. Dieses Bild transportiert unzählige andere, und es stört die scheinbare Intaktheit von Stadt und Gesellschaft aufs Trefflichste.

Ein paar Störenfriede haben es doch geschafft, bis zur Veranstaltung vorzudringen. Beide Bilder stammen von Carlos Aguirre Poblete. Mehr Bilder, zu denen ich nur verlinken kann, hier.

Nun zum Rotwein. The Clinic bringt ein Interview mit Marcelo Jünemann und Mauricio Banchieri. Die beiden Jungunternehmer werden in Kürze im Auftrag und mit Mitteln ihrer Regierung eine Art Chile-Flagstore in Soho, New York eröffnen - um ein zeitgemäßes "Brand", sprich: eine Marke zu setzen. Es kursieren bereits Entwürfe für den Laden - auffallend dabei ein extrem karges Design und eine gläserne Wand mit 3.000 Flaschen bestens chilenischen Weins, der auch käuflich erworben werden kann. Auch Kritik wurde bereits laut an dieser Repräsentation eines Landes, das doch realiter mehr rustikal als reduziert auftritt. Pure Chile heißt ihr Projekt, angelehnt an die ersten Worte der Nationalhymne Puro, Chile. Hier ein paar Auszüge aus dem Interview:

TC: Was hat das Design eures Stores mit unserem Land zu tun?

MB: Es stimmt schon, dass der chilenische Stil im Wirklichkeit etwas folkloristischer ist, um es einmal so auszudrücken. Aber wir glauben, mit diesem minimalistischen oder eklektischen Stil eine gemeinsame Sprache gefunden zu haben, über die wir die Kommunikation überhaupt erst einmal in Gang setzen. Die Folklore kommt dann später. Ich fände es toll, wenn die New Yorker sich auch für Violeta Parra oder die Prisioneros interessieren, aber wenn wir damit einsteigen, erreichen wir unser Ziel vielleicht nicht.
MJ: Wir sitzen in Soho, im hipsten Viertel von New York, da können wir keinen Stand aufbauen, wo Kunsthandwerk herumbaumelt. Sonst schreibt die New York Times niemals über uns.
MB: Um unsere kaufkräftige Zielgruppe für Chile zu interessieren, müssen wir ihnen klarmachen, dass sie unser Land besuchen können, ohne überfallen zu werden. Obwohl das natürlich vorkommt. Obwohl die Infrastruktur viel zu wünschen übrig lässt. Undsoweiter.

TC: Aber warum sollte man den Leuten Lügen auftischen? Sie werden dann ja doch überfallen, und die sopaipillas, die bei uns auf der Straße verkauft werden, sind kein bisschen pure.

MB: Aber schau doch mal nach Venezuela, da werden jedes Jahr elftausend Menschen ermordet. In Kolumbien haben sie Probleme mit der guerrilla, und in Argentinien ist dein Geld auf der Bank nicht sicher. Ganz zu schweigen von einem zerrissenen Land wie Bolivien! Die Armut, die favelas in Brasilien! Da können wir auf Chile doch total stolz sein! Klar, wir sind auch stolz auf den Bauernmarkt von Chillán, aber wir müssen eben erreichen, das die Leute erst mal anbeißen.
MJ: Und wenn sie dann nach Chillán kommen, geben sie ihre Dollars auf dem Markt aus. Ich gehe davon aus, dass der Tourismus in zehn Jahren Chiles zweitwichtigste Einkommensquelle sein wird. (...)

TC: Kritisiert wird auch, dass ihr vor allem Wein verkauft.

MB: Das ist eine Frage der Ökonomie. Wenn wir jede Menge Geld zu verbrennen hätten, klar, dann könnten wir auch handgeschnitzte Jo-Jos anbieten. Fragt sich, ob wir auch nur einen verkaufen würden. Und der Laden kostet 30.000 Dollar Miete im Monat.
MJ: Oder den indio pícaro! Das wär's doch, wir verkaufen indios pícaros!
MB: Wir müssen verantwortlich mit dem Geld umgehen, das der Staat uns anvertraut. Und deswegen bieten wir das an, was auch gekauft wird. Und das ist der Wein.

Wer jetzt noch wissen will, was ein indio pícaro ist (in der Tat eines der "typischsten" Produkte auf chilenischen Kunsthandwerk-Märkten), klicke hier. Achtung, obszön!

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